Ein immanent musik-theatralisches Feuerwerk für und mit Svea Schildknecht.

György Ligetis einzige Oper «Le Grand Macabre» basiert auf einem Theaterstück des belgischen Dichters Michel de Ghelderode, neben Eugène Jonesco, Alfred Jarry und Samuel Beckett einem bedeutenden Vertreter des absurden Theaters. Von Elgar Howard, der 1978 die Uraufführung der Oper in Stockholm einstudiert hatte, stammt das Arrangement dreier Arien für Koloratursopran und Ensemble. Der deutsche Komponist Manfred Stahnke, der bei Ligeti in Hamburg studiert hat und jetzt selbst dort Komposition unterrichtet, schrieb 1999 sein Werk «Lumpengalerie», basierend auf einer aufgezeichneten Improvisation, die zu einem Sextett umgearbeitet wurde. Die Südkoreanische Komponistin Unsuk Chin schrieb nach einem Besuch der Vororte Seouls 2009 das Ensemblestück «Gougalon» in Erinnerung an das alte, verarmte Wohnviertel der 1960er Jahre, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Sie beschreibt das Werk als «imaginierte Volksmusik».

In Memoriam Peter Eötvös (2.1.1944–24.3.2024)

Für den bedeutenden ungarischen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös, der am 24. März dieses Jahres überraschend gestorben ist, planen wir ein Memorialkonzert mit drei Ensemblewerken, die Eötvös im Zeitsaum von 32 Jahren geschrieben hat. Unser Gastdirigent ist der ungarische Komponist, Klarinettist und Dirigent Gregory Vajda. Seit 2018 ist er der Programmdirektor der «Peter Eötvös Contemporary Music Foundation» in Budapest.

Konzert in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Klasse für elektroakustische Komposition Germán Toro Pérez

Mario Davidovskys «Synchronisms» sind Meisterwerke der Instrumentalmusik mit Zuspielband, die wir bereits 2020 geplant hatten, aber Corona-bedingt nicht aufführen konnten. Stattdessen ist eine Doppel-LP entstanden. Für die Neuauflage der Idee, Davidovskys Musik im Konzert zu spielen, konnten wir als Koproduktionspartner das ICST der ZHdK gewinnen. In dieser Zusammenarbeit entstehen sieben neue Kompositionen von Studierenden für die gleichen Besetzungen.

Mario Davidovsky ist eine der ganz grossen Figuren der Amerikanischen Neuen Musik – in Europa jedoch bisher kaum gespielt. Als Pionier der Elektronischen Musik arbeitete er bereits 1960 am «Columbia-Princeton Electronic Music Center». Sein Werk umfasst bei weitem nicht nur elektronische Musik. Seine berühmtesten Werke, die «Synchronisms», eine Reihe von über einem Dutzend Werken, die in einem Zeitraum von mehr als 40 Jahren entstanden sind, prägten Generationen von Komponist:innen. Bei der Kombination «klassischer» Instrumente mit vorproduzierten elektronischen Klängen interessiert sich Davidovsky im Unterschied zu vielen anderen Komponist:innen dieses Genres in keiner Weise für besondere «Sound Effects», sondern sucht nach einer Verschmelzung des Instrumentalklanges mit der Elektronik, woraus sowohl Kontinuität als auch immanenter musikalischer Ausdruck entstehen. Die frühesten «Synchronisms» entstammen einer Zeit, in der unsere heutige «sound technology» noch in den Kinderschuhen steckte, sind aber nichts desto trotz Meisterwerke, die ihresgleichen suchen; die lange Zeitspanne, in der die «Synchronisms» entstanden sind, dokumentiert ausserdem den technischen Fortschritt auf diesem Gebiet im Lauf der Zeit. Neben ungewöhnlich vielen Auszeichnungen für sein Schaffen erhielt Mario Davidovsky im Jahr 1971 explizit für sein Werk «Synchronisms No. 6» den Pulitzer-Preis.

Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) / Jannik Giger (*1985): «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» (1922/2017)

Jannik Giger ist als Komponist und Filmemacher gewohnt Spartengrenzen auszuloten und zu überwinden. Projekte von und mit ihm tragen immer seine unverwechselbare Handschrift. Die Affinität zum Film lassen ihn Murnaus Klassiker «Nosferatu» sensibel und stimmig in Musik setzen, ohne je plakativ oder illustrativ zu werden.

Für seine Neuvertonung des Stummfilmklassikers «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» (1922), die 2017 am Musikfestival Bern zur Uraufführung kam, griff Jannik Giger auf Versatzstücke aus Soundtracks zu Filmen von David Lynch oder Alfred Hitchcock sowie auf Fragmente aus der romantischen Klangwelt Franz Schuberts zurück. Diese Reminiszenzen geistern zum einen als zugespielte Samples und zum anderen in kompositorischer Neuschöpfung für vierzehn Instrumentalist:innen durch die Partitur und verbinden so die Historizität des Films mit der Gegenwart seiner Aufführung. In der Transformation dieser Spuren klingender Vergangenheit und ihrer Gegenüberstellung mit live agierenden Musiker:innen verwischt Giger die Trennlinien zwischen realer und virtueller Klangerzeugung. Er löst den herkömmlichen filmmusikalischen Orchesterklang auf, indem er ihn wiederum mit einer Soundcollage verfremdeter Orchesterklänge überschreibt. Das ist von berauschender Klangsinnlichkeit und fügt sich geschickt in die poetische Bildwelt Friedrich Wilhelm Murnaus, unterstreicht die Dramaturgie des Films und bleibt dennoch eine eigenständige Sinneinheit. Ferner weist Gigers Komposition ihre Zitatebene immer wieder als solche aus und wird so zur Reflektion über Wesen und Wirkung von Filmmusik. (Moritz Achermann)

Die japanische Komponistin Noriko Hisada ist eine ganz aussergewöhnliche Stimme Japans, deren Musik zu Unrecht viel zu selten aufgeführt wird. Das «ensemble für neue musik zürich» setzt sich seit über 30 Jahren für die Musik dieser damals in Europa noch unbekannten Komponistin ein und hat 1991 ihr Quintett «Prognostication» in Boswil mit Jürg Henneberger am Klavier uraufgeführt. EPhB präsentiert dieses Werk nun zusammen mit dem 25 Jahre später entstandenen siebenteiligen Ensemblestück «Led by the Yellow Bricks», das von Lyman Frank Baums Kinderbuch «The Wizard of Oz» inspiriert ist.

William Waltons und Edith Sitwells einst so provozierendes Werk mit Graham Valentine als Sprecher zu programmieren ist uns in verschiedener Weise eine Lust! Die englische Dichterin Edith Sitwell wurde nicht nur durch ihre Gedichte, sondern auch durch ihren exzentrischen Lebensstil und ihre kompromisslos unangepassten Ansichten zur Ikone der lesbisch-schwulen Bewegung und provozierte bereits in den frühen 1920-er Jahren mit ihrem Auftreten so manchen Skandal. Bei der Uraufführung von «Façade» sprach sie ihre surrealistischen Verse unsichtbar hinter einer bemalten Leinwand, in der ein Loch für ein riesiges Megaphon ausgespart war.

In Kombination mit den Aufträgen an die beiden jungen Komponistinnen Asia Ahmetjanova aus Lettland und Charlotte Torres aus Frankreich, beide in der Schweiz lebend, ist garantiert für aktuellen künstlerischen Zündstoff gesorgt.

Unsere Antwort auf den globalen Boykott Russischer Künstler:innen in pazifistischer Geisteshaltung. Diese «anderen» Stimmen aus Russland müssen und sollen gehört werden, denn sie haben Bedeutendes zu sagen, ob älter oder jung.

Die Komponistin Galina Ustvolskaïa war einst Lieblingsschülerin Dmitri Schostakowitschs und lebte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu ihrem Tod zurückgezogen in Sibirien. Ihre Werke wurden bis 1968 kaum gespielt. Erst ab den 1990er Jahren erreichte sie im Ausland einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Alexander Khubeev vertont und bebildert mit multimedialen Mitteln das Gedicht «Don’t leave the room» (1970) des 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgerten russischen Dichters Joseph Brodsky. Diese dichterische Warnung vor der Bedrohung durch die Aussenwelt erhält nach den gegenwärtigen «Corona»-Erfahrungen prophetische Bedeutung.

Die russische Komponistin Marina Khorkova lebt und arbeitet in Berlin. In ihrem Werk «collision» kollidieren extreme Register, zerbrechliche und brutale Klanggesten, Statik und unvermittelte Ereignishaftigkeit in zahlreichen kontrastiven Klangfeldern miteinander. Es wurde 2015 vom Ensemble «ascolta» in Stuttgart uraufgeführt.

Der jüngste Komponist dieses Konzerts ist der aus St. Petersburg stammende Daniil Posazhennikov, der zurzeit in Zürich Musiktheaterregie studiert.

Gibt es in Bezug auf das Komponieren eine «Swissness»? Statt einer Antwort auf diese Frage konfrontieren wir das Publikum mit drei neuen Werken von Schweizer Komponisten aus drei Generationen, flankiert mit einem Werk unseres viel zu früh verstorbenen Freundes Erik Oña.

Der Jüngste – Sebastian Meyer – ist gleich seinem Lehrer Erik Oña auf ständiger Suche nach dem besten Klang mit reduziertem Material, sei es, was die Wahl der Instrumente oder der kompositorischen Mittel betrifft.

Der Trompeter, Komponist und Improvisator André Meier – ebenfalls ehemaliger Kompositionsstudent von Erik Oña – beschäftigt sich in seiner kompositorischen Arbeit vorwiegend mit algorithmischen oder maschinellen Prozessen, Sonifikationen, modularen und offenen Formen.

Der Pianist und Komponist Jean-Jacques Dünki ist auch als Musikwissenschaftler tätig, beschäftigt sich sowohl mit historischer Aufführungspraxis (Hammerklavier und Clavichord) als auch mit den Komponisten der Neuen Wiener Schule und der zeitgenössischen Musik. Als Komponist ist er weitgehend Autodidakt. Er schreibt für den französischen Cellisten Pierre Strauch und uns ein «Concertino» für Violoncello und Ensemble.

Abschlusskonzert des Kompositions-Wettbewerbs «Phœnix Trabant 2022/2023»


Edgar Varèse hat mit «Octandre» ein epochemachendes Werk für eine grosse Kammermusikbesetzung geschrieben und zugleich eine neue Gattung gegründet: Vier Holz- und drei Blechbläser werden durch einen Kontrabass zum Oktett ergänzt – mit gänzlichem Verzicht auf Tasteninstrumente, Schlagzeug und hohe Streicher. In unserem Nachwuchsförderungs-Wettbewerb «Trabant» haben wir die Aufgabe gestellt, ein neues Werk in dieser Besetzung zu komponieren, das in irgendeiner Weise Bezug auf «Octandre» nimmt und dieses Werk wie ein Trabant umkreist. Die drei Preisträger:innen werden als Abschluss dieses Workshops mit dem Ensemble Phoenix Basel und Detlev Müller-Siemens (im Oktober mit Johannes Schöllhorn für den erkrankten Detlev Müller-Siemens) als Kompositionscoach ihre neuen «Trabant»-Kompositionen zusammen mit «Octandre» von Edgar Varèse präsentieren.
Das Werk «Monolith» des deutschen Komponisten Thomas Bruttger wurde 1991 vom «Ensemble Aventure» (Freiburg i. Br.) in Auftrag gegeben.

 

Edgar Varèse: «Octandre»

«Octandre» wurde für acht Instrumente (sieben Blasinstrumente und einen Kontrabass) geschrieben und ist im gleichen Jahr wie Igor Strawinskys Oktett entstanden. Zusammen mit «Density 21,5» ist es das einzige Werk Varèses, das ohne Schlagzeug auskommt. Es ist auch das einzige, das in aneinandergereihte Sätze unterteilt ist. Dennoch ist es typisch für den Stil und die Technik des Komponisten, der sich bewusst ausserhalb der Tradition bewegte, ein erbitterter Feind der Entwicklung war und für den die Klangfarbe, der wichtigste Parameter der Komposition, als Strukturelement galt. «Was von Anfang an auffällt», schreibt Arthur Hoérée, «ist die aussergewöhnliche Instrumentierung, die der Komposition zugrunde liegt. Die Flöte steigt zum Cis 4, die Oboe zum G 3 und das Fagott zum C 2, die Posaune bewegt sich in den mittleren Regionen der Trompete. Die Flatterzunge (Zungenrollen, das einen vibrierenden Ton erzeugt) wird regelmässig verwendet.» Jeder der Sätze von «Octandre» wird mit einem Instrumentalsolo eröffnet, das beweist, dass die melodische Linie dennoch nicht unwichtig ist. Der erste Satz (Assez lent) beginnt und endet mit einem Oboensolo, das in der Einleitung von der Klarinette und dem Kontrabass unterstützt wird. Der zweite Satz (Sehr lebhaft und nervös) wird durch ein Solo der Piccoloflöte in tiefer Lage (!) eingeleitet. Er geht in den dritten Satz (Grave) über, indem ein hoher Ton des Kontrabasses gehalten wird, worauf ein Eröffnungssolo des Fagotts folgt, das einer «lebhaften und jubilierenden» Fugatopassage mit aufeinanderfolgenden Einsätzen des Fagotts und der Klarinette – die Oboe imitierend – vorausgeht.

(Myriam Chimènes)

 

Thomas Bruttger: «Monolith»

Der Titel ist nicht nur in freier Assoziation zu einigen Partien in meinem Stück aufzufassen, sondern durchaus auch im Sinne der strukturellen Verarbeitung als «wie  aus einem Block gemeisselt» zu verstehen. Ausgangspunkt der Komposition ist ein aus drei Schichten zusammengesetzter statisch-repetitiver «Zentralklang», der im weiteren Verlauf des Stückes eine Vielzahl prismatischer  Brechungen in kleinere Einzelklänge bis hin zur völligen Auflösung der blockhaft-vertikalen Ereignisse in sukzessiv-horizontale Einzelpartikel erfährt. Das Stück entfaltet sich in acht Grossabschnitten, denen in ihrer Blockartigkeit ein Habitus des Unbeweglichen anhaftet, und so erscheint die musikalische Form als ständiger Wechsel verschiedener Aggregatzustände, chemischen Gärungsprozessen ähnlich, mit unterschiedlich starken Dichtegraden. Dagegen steht ein dynamisch-prozesshaftes Verknüpfungsprinzip, dergestalt, dass von Abschnitt zu Abschnitt die Erfahrungen der jeweils vorangegangenen Formteile aufgenommen werden um diese kontinuierlich oder diskontinuierlich weiterzuentwickeln.
Das Stück lernt gewissermassen von sich selber, um sich selbst ständig neu zu generieren.

(Thomas Bruttger)

 

3 Preisträger:innen des «Trabant»-Workshops 2023:

1. Preis:

Asia Ahmetjanova: «Ich möchte aufhören zu singen»

Das Stück «Ich möchte aufhören zu singen» mit dem vollen Titel «Ich möchte aufhören zu singen, damit mein Lied von den anderen übernommen wird» erzählt von der Reise durch das Leben eines Individuums.
Christoph Bösch – Piccoloflöte – repräsentiert die Hauptperson, die verschiedene Lebensphasen durchwandert und ihre Rolle in jedem Lebensabschnitt neu erlebt. Die Prioritäten ändern sich durch unterschiedliche Begegnungen. Imitations- und Anpassungsfähigkeit formen die Entscheidungen und die Art der Aktivitäten. Die eigene Stimme ähnelt vielem, ausser sich selbst.
Ist es unvermeidbar, das Bedürfnis zu haben, ein Teil des Ganzen zu werden?
Was passiert mit der Welt des Individuums, wenn es die Verantwortung radikal auf sich nimmt?
Entscheidende Wiederholungen.
Manchmal ist die stille Stimme die authentischste.
Es geht weiter, alles beginnt von vorne, aber in einer anderen Tonart – wir sind eine kleine Terz runtergerutscht.

(Asia Ahmetjanova)

 

2. Preis, ex aequo:

Francesca Gaza: «ruhe zur lautesten stunde»

«ruhe zur lautesten stunde» wurde von einer Szenerie inspiriert, die ich vor einigen Monaten in der Negev-Wüste wahrnahm. Von einem erhöhten Aussichtspunkt aus blickte ich auf Ruhe, Stille und grosse Leere herab, aber als ich sie betrat, stellte ich fest, dass sie voller bunter, summender Insekten und Geräusche war, die die scheinbare Leere und Stille laut und explosiv aufleben liessen. Diese Kontraste von lauter Stille, und gefüllter Ruhe inspirierten das Werk massgeblich. Farbe und Färbung, ist das Zentralelement, was als Trabant zu Varèse «Octandre» fungierte.

(Francesca Gaza)

 

Tze Yeung Ho: «hortensia»

«hortensia» arbeitet mit metaphorisch umgedrehten Motivfragmenten, die aus Edgar Varèses «Octandre» entliehen sind. Die verschiedenen Fragmente werden in acht kurze Abschnitte zusammengefügt, die durch Tempowechsel in drei Sätzen gekennzeichnet sind. Die acht kurzen Abschnitte stammen aus dem «H-Kapitel» oder dem achten Abschnitt des «Alfabet» der dänischen Dichterin Inger Christensen. Die acht ausgewählten Wörter, die der norwegischen Übersetzung des Buches entnommen sind, lauten wie folgt: «hage» (Garten), «hymne» (Hymne), «halvmåne» (Halbmond), «halvsilke» (Halbseide), «helle» (Stopp, wie in Türstopper), «husly» (Schutz), «hagl» (Hagel) und «hortensia» (Hortensie). Die acht Wörter dienten als Inspiration für die Anordnung und Behandlung der musikalischen Fragmente in den verschiedenen Tempobezeichnungen aus «Octandre». Dieses Werk ist parasitärer Natur. Es soll zusammen mit dem zwischen die drei Sätze dieser Komposition eingeschobenen Originalwerk von Varèse aufgeführt werden.

(Tze Yeung Ho)

Trabant 2018/19 verlief in der äusseren, organisatorischen Form nach dem Muster der 2016 modifierten, zweiten Trabant-Edition, da sich diese in jeder Hinsicht bewährt hatte. Zusätzlich zu den 8 Kandidat:innen vergaben wir diesmal eine „wild card“ an die (sehr) junge und talentierte Komponistin Joey Tan, auf die wir auf unserer Reise nach Singapur im vergangenen Herbst aufmerksam geworden waren. Joey nahm als vollwertiges Mitgleid der Gruppe teil, jedoch fremdfinanziert und somit auch nicht das anliegende Budget belastend.

In einem ersten Modul im November 2018 war Raum für instrumentenspezifische Fragen, angefangen von kleinen Besetzungen bis hin zu Balance-Fragen in der vollen Besetzung. Unsere beteiligten Kernmitglieder konnten ihre Erfahrung und ihr Know-how und Auskünfte über relevante Fachliteratur direkt an die gemeinsam als „Klasse“ anwesenden Komponist:innen weitergeben, was auf sehr fruchtbaren Boden fiel.

In einem zweiten Modul – angesetzt im Januar 2019 – reisten die Komponist:innen teils mit Skizzen, teils mit bereits ausgewachsenen Kompositionen im Gepäck an, die durch grössere Register und anschliessend durch das vollständige Ensemble ausprobiert und erprobt wurden. Feedbacks durch den ab diesem Zeitpunkt anwesenden Detlev Müller-Siemens, durch Jürg Henneberger wie durch Ensemble-Mitglieder führten zu einer vertieften, intensiven Auseinandersetzung mit den Kompositions-Skizzen. Erik Oña musste sich aufgrund seiner schweren Krankheit ganz aus dem Projekt zurückziehen, und wir konnten ihn durch Detlev Müller-Siemens ersetzen, mit dem wir bereits in der Edition 2016/17 in gleicher Funktion erfolgreich zusammengearbeitet hatten.

Für das dritte Modul (Juni 2019) lieferten alle Komponist:innen ein fertiges Stück in Partitur und Stimmenmaterial (digital und auf Papier), dem 8 der 9 Komponist:innen auch nachkamen (die Koreanerin Ji Hyon Yoon blieb dem letzten Modul aus familiären Gründen fern). In einer fast zu dichten Probephase probte das vollbesetzte Ensemble die acht teils umfangreichen Kompositionen, wieder mit ständiger Anwesenheit aller Komponist:innen und Detlev Müller-Siemens. Am Samstag, 8. Juni 2019 wurden alle Kompositionen in einem bewusst internen Konzert uraufgeführt und gleichzeitig aufgenommen.

Aus den  Kandidat:innen werden zwei als Preisträger:innen für das im Januar 2020 geplante Konzert im Zusammenhang mit Witlod Lutosławski’s „Chain I“ ausgewählt.

Im Jahr 2020/21 führe das EPhB zum vierten Mal seinen dreiteiligen Trabant-Workshop durch, der zum ersten Mal 2014/15 erfolgreich stattgefunden hatte.

In einem international ausgeschriebenen Kompositions-Aufruf wurden 8 Nachwuchs-Komponist:innen gesucht. Die Zusammenarbeit gliederte sich in drei Module mit Workshop-Charakter. Für ein viertes Modul wurden zwei der Teilnehmer:innen ausgewählt, die dann innerhalb der Folge-Saison des Ensemble Phoenix Basel von diesem einen regulären Kompositionsauftrag für ein Werk erhielten, das auf ein programmiertes Zentralwerk eines „Klassikers der Moderne“ Bezug nehmen oder dieses kommentieren sollte. Im Jahr 2021 handelte es sich um Gérard Grisey’s „Vortex Temporum“.

 

Wir schliessen unser Jahresprogramm mit der Serie „Blanko“ ab. Wie jedes Jahr, immer im Mai oder Juni. Dabei soll die Sprache heutiger Musik in freier Form erörtert werden. Das Ensemble Phoenix Basel lädt hierfür jeweils zwei Experimentalmusiker:innen aus den Bereichen Noise, Free Improvisation, Sound Art etc. zu einer Zusammenarbeit ein. Ein akademischer Hintergrund ist dabei zweitrangig.

Svetlana Maraš eröffnet den Abend. Die serbische Komponistin und Klangkünstlerin arbeitet an der Schnittstelle zu experimenteller Musik und Sound Art. Seit 2021 ist sie Co-Leiterin des Elektronischen Studios Basel und Professorin für kreative Musiktechnologie an der Hochschule für Musik FHNW.

Fred Frith übernimmt in der zweiten Konzerthälfte. Der englische Multiinstrumentalist ist vor allem für sein Gitarrenspiel bekannt und bedient sich dabei gerne allerlei Alltagsgegenständen, um seine Instrumente zum Klingen zu bringen. Von 2011 bis 2020 unterrichtete er an der Hochschule für Musik Basel das Fach Improvisation.

Im September 1971 revoltierten die Insassen des Gefängnisses Attica im Norden des US-Bundesstaates New York gegen die Haftbedingungen und nahmen einige Gefängniswärter als Geiseln. Auf Befehl des Gouverneurs stürmte anschliessend die Nationalgarde das Gefängnis, wobei 32 Menschen ums Leben kamen. Darunter Sam Melville, ein Bombenattentäter, der im Frühjahr 1971 einen Brief an seinen Bruder geschrieben hatte, der in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde. Zurück nach einer längeren Italienreise, las der amerikanische Komponist und Pianist Frederic Rzewski den Brief in der Zeitschrift und war ergriffen von der poetischen Qualität und der beschriebenen Erfahrung von Zeit. Daraus entstand „Coming Together“, ein Stück für variables Ensemble und einen Sprecher. Eine Komposition, die zum Paradebeispiel für die Musik des Widerstands geworden ist; konsequent durchkonstruiert und mit einer genau kalkulierten Schlusssteigerung.

Der palästinensische Komponist Samir Odeh-Tamimi hat eine ganz eigene Musiksprache entwickelt. Gespiesen von westeuropäischer Avantgarde und arabischer Musikpraxis, strahlt sie eine besondere Kraft aus. Seine Begeisterung für die europäische Klassik und die Ästhetik der Neuen Musik führten ihn mit 22 Jahren nach Deutschland. Dort fand er auch wieder zurück zur Musikkultur seines Herkunftslandes. Seit 2016 ist Samir Odeh-Tamimi Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Wie unser dritter Gast Mathias Spahlinger, er allerdings bereits seit 1996. Der deutsche Komponist schafft äusserst konsequent und kompromisslos, vielseitig, konzeptuell und mit grosser Sorgfalt Werke zwischen ästhetischer Autonomie und politischem Bewusstsein. 2014 wurde ihm der Grosse Kunstpreis der Akademie der Künste verliehen, womit er die höchste Auszeichnung derselben für sein Lebenswerk erhielt.

Der englische Multiinstrumentalist und Komponist Tim Hodgkinson ist v.a. als experimenteller Rock- und Improvisationsmusiker bekannt geworden. Er hat u.a. zusammen mit Fred Frith 1968 die politisch und musikalisch radikale Gruppe „HENRY COW“ gegründet. Er hat aber auch für klassische Formationen Kompositionen geschrieben. Im Jahr 2003 spielte das Ensemble Phoenix Basel sein Quartett „Repulsion“, das als Live-Mitschnitt auf unserer Portrait-CD („United Phoenix Records“, 2004) erschienen ist. Sein neues Werk „Under the Void“, das er für uns geschrieben hat, wird nach sieben Jahren endlich zu seiner Uraufführung kommen.

Seit seinem Studium lebt der ursprünglich kolumbianische Komponist Leonardo Idrobo in Basel. Schon 2011 hat er für uns komponiert. Nun freuen wir uns, dass ein weiteres Stück von ihm zur Uraufführung kommt.

Auch Christophe Schiess aus Biel hat nach einer familiär bedingten Schaffenspause ein neu komponiertes Stück für uns mitgebracht. Seit er bei Georg Friedrich Haas in Basel studiert hatte, findet man seinen Namen öfter in unseren Programmen. Mittlerweile unterrichtet Christophe Schiess selbst an der Hochschule für Musik in Basel.

Die drei Uraufführungen werden ergänzt durch ein Ensemblestück der chinesischen Komponistin Wang Lu. «Backstory» hat eine offene, intuitive Form. Scheinbar lose und doch fest gewickelte Klangblöcke reiben sich an beschwingten Grooves.

Mit grosser Leidenschaft und Hingabe widmet sich das Ensemble Phoenix Basel regelmässig und auch diesmal der Neuen Wiener Schule.

Die drei Pioniere dieser Stilrichtung haben die europäische Neue Musik massgeblich geprägt. Mit seinen Schülern Alban Berg und Anton Webern schuf Arnold Schönberg eine Musik, die einerseits tief in der Romantik verwurzelt ist, und andererseits – um Stefan George zu zitieren, dessen Gedichte oft und gerne von den drei Komponisten vertont wurden –, atmet diese Musik „Luft von anderem Planeten“. Die von Schönberg erfundene „Dodekaphonie“ – die Zwölftontechnik – hat Generationen von Komponisten beeinflusst und war Initialzündung für weitere stilbildende Tendenzen wie z.B. die serielle Musik.

In diesem Programm erklingen Lieder für hohen Sopran mit Ensemble, umrahmt von originalen Instrumentalstücken und Bearbeitungen grösser besetzter Orchesterwerke, ganz im Sinne der Tradition des 1918 von Schönberg gegründeten „Vereins für musikalische Privataufführungen“ – der bereits 1921 wieder aufgelöst wurde.

Der Abend beginnt im Mittelalter und macht dann einen Sprung in die heutige Zeit.

Michael Hersch konnten wir für eine neue Komposition für Sopran und Ensemble gewinnen: „one step to the next, worlds ending“. Er hatte die letztjährige Musiktheaterproduktion „Poppaea“ komponiert, und wir freuen uns, auf diese Weise an einen Programmschwerpunkt der letzten Saison anknüpfen zu können. Die Sopranistin Ah Young Hong – die schon in „Poppaea“ mit der Titelpartie begeistert hatte – übernimmt den Solopart.

Das Konzertprogramm wird umrahmt von neu bearbeiteten Werken aus dem 14. Jahrhundert: von Guillaume de Machaut sowie von Jacob de Senleches und Jean Galiot. Diese gehören der Stilepoche der „Ars subtilior“ an, die sich aus Machauts musikalischen Ideen weiterentwickelt hat. Wir spielen sie in einer Bearbeitung von Erik Oña. Der 2019 nach schwerer Krankheit verstorbene argentinische Komponist hatte seit 2001 am Elektronischen Studio der FHNW in Basel unterrichtet.

Ergänzt wird das Programm durch die Kompositionen „After Serra“ und „Aequilibria“.

Erstere, aus der Feder des amerikanischen Komponisten Jason Eckardt, bezieht sich auf die monumentalen Skulpturen des bildenden Künstlers Richard Serra. Eine solche – „Intersection“ – steht seit 1992 auf dem Theaterplatz in Basel. Zweitere besticht durch leise, sphärische Klänge aus der Feder der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir.

Das Konzert schliesst mit der Motette „Puis qu’en oubli“ von Guillaume de Machaut in der Bearbeitung von Michael Hersch, mit der das Konzert eingeleitet wurde.

Den Auftakt zur neuen Saison macht eine der aussergewöhnlichsten Stimmen im Bereich der Neuen Musik.

Liza Lim ist Forscherin, Pädagogin und Komponistin. In ihrer Arbeit legt sie ihr Hauptaugenmerk auf interkulturelle Zusammenarbeit. Sie beschäftigt sich dabei mit Themen wie Schönheit, der Beziehung zwischen Mensch und Natur unter Einbezug der gesamten Menschheitsgeschichte und der transformativen Kraft von Ritualen. Als Tochter chinesischer Auswanderer im australischen Perth geboren, bringt sie Einflüsse chinesischer, japanischer, koreanischer Kultur und die Klänge der indigenen Völker Australiens mit der Ästhetik zeitgenössischer abendländischer Musik zusammen.

Mit zwei Werken, die uns besonders am Herzen liegen – einem frühen Stück und einer aktuelleren Komposition –, geben wir ihrem Schaffen an diesem Abend eine Bühne.

 

„Garden of Earthly Desire“ (Garten der irdischen Sehnsucht) (1988/89)

Auftragswerk des Ensemble ELISION und des Handspan Theatre & mit Unterstützung des Performing Arts Board oft he Australia Council.

Das Werk ist Daryl Buckley gewidmet

 

Ich begann die Komposition von „Garden of Earthly Desire“ mit der Idee, gleichzeitig viele verschiedene (musikalische) Geschichten auf vielen Ebenen zu erzählen. Inspiriert wurde ich dabei vor allem von Italo Calvinos „Il castello dei destini incrociati“ (Castle of Crossed Destinies / Schloss der gekreuzten Schicksale), in dem sich aus der Interpretation der Anordnung von Tarotkarten eine Reihe von Fabeln ergibt. Die Geschichten, die durch diesen Prozess entstehen, überschneiden sich und erhellen sich gegenseitig mit einer Vielzahl von Bedeutungen, die Calvino aus den Karten ,liest‘, die mit jahrhundertealten Erinnerungen an die westliche Kultur verbunden sind.

Diese kaleidoskopische Musterung von Bedeutungen stimmt mit meiner jüngsten ästhetischen Beschäftigung mit fragmentierten, explodierten Strukturen überein, die ich als ,Trümmer‘-Formen bezeichne. Im Mittelpunkt dieses Forschungsbereichs steht der Glaube an eine hypothetische ,Ganzheit‘ einer Idee – der Idee, die der Musik zugrunde liegt –, die sich in der vorkompositorischen Phase zu einem momentanen Bewusstseinsblitz verdichtet präsentiert. Bei dem Versuch, diese Idee zu verwirklichen, wird sie jedoch zersplittert und in ein Feld von technischen Überlegungen – Strategien, Spielen, Filtern – gerahmt, d. h. von verschiedenen Lesarten möglicher Bedeutungen der Idee. Das Musikstück ist daher nicht so sehr ein abgeschlossenes ,Kunstobjekt‘ als vielmehr die daraus resultierenden ,blutigen Spuren‘ von Interpretationsschichten.

Das Werk bietet keine ,saubere‘ endgültige Lösung, sondern versucht vielmehr, einen komplexen Fluss des Ausdrucks in der Zeit darzustellen – eine Feier der Vielfalt und des Reichtums des Lebens in uns und um uns herum. Daher auch die Anziehungskraft des Tarots – die Charaktere dieser archetypischen Figuren finden in dem Werk musikalische Entsprechungen. Da ist der Gaukler – die alchemistische, quecksilbrige Figur, die sich in einer Dialektik der Extreme bewegt; die Hohepriesterin – Totem der Einweihung und des Sammelns von elektrisierenden Kräften; die Kaiserin – fruchtbar, heidnisch, voller Leben…

Die Verbindung des Werks mit dem flämischen Maler Hieronymus Bosch und seinem Tryptichon „Garten der Lüste“ aus dem 15. Jahrhundert wurde hergestellt, als ich bereits einen großen Teil des Werks fertiggestellt hatte. Ich sah bemerkenswerte Korrespondenzen zwischen verschiedenen Aspekten von Bosch – seiner dreiteiligen Struktur, dem surrealistischen Reichtum der in den Tafeln erforschten Stimmungen, den detaillierten Fantasiefiguren – und den Charakteren der verschiedenen Stränge meiner Musik, die ich in einem Zyklus von 3 x 3 x 3 Abschnitten organisiert hatte.

Liza Lim

 

„Extinction Events und Dawn Chorus“ (2017)

Auftragswerk der Wittener Tage für Neue Kammermusik für das Klangforum Wien & mit Unterstützung des APRA AMCOS Art Music Fund (Australien).

 

  1. Anthropogene Trümmer
  2. Retrograde Umkehrung
  3. Autokorrektur
  4. Übertragung
  5. Chor der Morgendämmerung

Every aesthetic trace, every footprint of an object, sparkles with absence.
Sensual things are elegies to the disappearance of objects.
Timothy Morton, Realist Magic

The fairest order in the world is a heap of random sweepings.
Herakleitos

 

Riesige Ansammlungen von Plastikmüll zirkulieren in fünf Wirbeln in den Meeresströmungen der Welt und werden zu giftigen Fragmenten zermahlen, die sich auf abgelegenen Inseln und in den Fischen, die wir essen, ablagern. Unser alltäglicher Müll bietet Einsiedlerkrebsen Unterschlupf, selbst wenn das saure Wasser ihre ehemaligen Muschelgehäuse auflöst. Albatrosse schaufeln Mahlzeiten aus Plastikverpackungen auf, um ihre Küken zu füttern, die dann ersticken und verhungern, wenn sie diese bunte Nicht-Nahrung zu sich nehmen.

Wie dieser Plastikmüll sind auch die Zeit und ihre Spuren immer noch bei uns, wenn auch in Überresten und pulverisiert. Ich habe eine Musik aus heterogenen Relikten der Vergangenheit kreiert – eine grobe Auswahl von ,Aussterbeereignissen‘, die von den spektralen Echos eines knarrenden 19. Jahrhunderts in Klaviermusik „auf verwachsenem Pfade“ (Leoš Janáček) über eine fehlerhafte Transkription einer Aufnahme des letzten jemals gehörten Paarungsrufs des inzwischen ausgestorbenen Kauai-O’o-Vogels bis hin zu den Spuren einer Sternenkarte reicht, die den südchinesischen Nachthimmel im 9. Jahrhundert darstellt. Diese Zeitspuren reiben sich in immer kürzeren Zyklen aneinander. Die flüchtigen Wiederholungen sind Pulsationen des Verschwindens und verweisen auf die Ungewissheit des menschlichen Gedächtnisses und seinen Zusammenbruch im elenden Vergessen.

Es gibt gebrochene Größe und es gibt Versuche zu singen.

Es gibt den unheimlichen Chor der Fische in der Morgendämmerung, die ein bedrohtes australisches Korallenriff bevölkern.

Die Zeit atmet eine unwahrscheinliche Hoffnung aus.

Liza Lim

 

How with this rage shall beauty hold a plea?
Shakespeare, Sonnet No. 65

Abschlusskonzert des Kompositions-Wettbewerbs „Trabant 2020/2021“


Das Ensemble Phoenix Basel führte in der Saison 2020/2021 zum vierten Mal einen biennalen internationalen Kompositions-Workshop durch. In drei vorbereitenden Modulen – diese unterstützt durch die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia – bekommen junge Komponist*innen zu Beginn ihrer Karriere die Gelegenheit, mit uns als professionellem Spezialist*innen-Ensemble über den Zeitraum von 18 Monaten zu experimentieren.

Für das abschliessende vierte Modul – dann als integraler Teil der Konzertreihe des Ensemble Phoenix Basel – erhalten zwei ausgewählte Absolvent*innen der Vorbereitungsphase den Auftrag, mit einem neuen Werk einen musikalischen „Kommentar“ zu einem Zentralwerk des 20. oder 21. Jahrhunderts zu komponieren. Die neuen Werke sollen quasi als „Trabanten“ diese Komposition „umkreisen“, d.h. Bezug darauf nehmen oder diese kontrastieren. 2019 werden sich die beiden Trabanten um eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts, „Vortex Temporum“ des französischen Komponisten Gérard Grisey drehen, der den Musikstil der „musique spectrale“ (Spektralmusik) entscheidend geprägt hat.

Das musiktheatralische Werk „Cassandre“ des Genfer Komponisten Michael Jarrell ist ein Melodram für Schauspielerin, Ensemble und Elektronik nach der Erzählung „Kassandra“ von Christa Wolf, einer zeitgenössischen Version des griechischen Dramas. Die schweizerisch-französische Schauspielerin Marthe Keller hat Jarrell zu dieser Komposition angeregt und 1994 in französischer Sprache am Théâtre du Châtelet Paris in der Regie von Peter Konwitschny uraufgeführt. Die deutsche Version wurde für Anne Bennent geschrieben und 1996 am Lucerne Festival in der Regie von Christoph Marthaler uraufgeführt.


„Cassandre“

Im Werk von Michael Jarrell stellt „Cassandre“ den Höhepunkt und die Synthese einer ersten und äusserst fruchtbaren Schaffensperiode dar, auch wenn ihm die Auswahl des Werktextes sowohl in musikalischer als auch in expressiver Hinsicht von Christa Wolf „diktiert“ wurde. Die Figur der trojanischen Priesterin, von der deutschen Autorin neu interpretiert, ist hin- und hergerissen zwischen Bildern der Vergangenheit und der drohenden Katastrophe. Weder Wolf noch Jarrell selbst wollen uns mitten in den Trojanischen Krieg hineinziehen: Kassandra spricht lediglich von ihrer Erinnerung an die Ereignisse. Zu Beginn des Stücks ist das Schlimmste bereits eingetreten. Der Gipfel der Klage – und der Revolte – liegt nicht so sehr in einer Utopie der Veränderung oder dem Versuch eines Durchbruchs, sondern vielmehr in einer Art Zwielicht. In einem winzigen Raum, der an das Nichts grenzt, sowie in der blitzartigen Gewissheit, die dem Tod vorausgeht, verdichtet sich die Zeit, schliesst sich und kehrt in Schleifen wieder: In der Intensität der Gefühle wird die Vergangenheit zur Gegenwart. Die verschiedenen Momente des Dramas bieten sich nicht in einer Kausalkette an, die einem realistischen Prinzip folgt, sondern folgen übergangslos aufeinander, ziehen sich an und klingen ineinander, in einem Bewusstseinsstrom, der das Wesentliche offenbart. Der innere Monolog ist Klärungsversuch und Eingeständnis des Scheiterns zugleich, eine Verbindung von klarer Erkenntnis und Melancholie. Das ganze Werk ist, so der Komponist, eine „lange Coda“.

Philippe Albéra

Das Ensemble Phoenix Basel hat sich zum lieb gewonnenen Ritual gemacht, das monumentale Spätwerk „For Philip Guston“ des amerikanischen Komponisten Morton Feldman alle zehn Jahre ins Programm zu nehmen. Vor zwanzig Jahren wurde die „Gare du Nord“ mit diesem Werk eröffnet.

Philip Guston war ein Maler aus der Bewegung des „abstract expressionism“, der sich in den 1950er und 1960er Jahren auf New York verdichtete – als Kreis von Künstlern, Literaten und Musikern, in dem sich bekanntlich auch Morton Feldman bewegte. Feldman schrieb dem Malerfreund einmal zu, ihm die Augen für Klang als direktes, formbares Medium geöffnet und ihn so als Komponisten erst befreit zu haben. Vor allem in den 1980er Jahren machte es sich Feldman zur Gewohnheit, grosse Widmungsstücke für verschiedene Künstler zu schreiben, darunter auch das 1984 für Flöte, Klavier und Schlagzeug entstandene „For Philip Guston“. Ausgangsmaterial des gut viereinhalb Stunden dauernden Erinnerungsstücks bildet die Tonfolge auf den Namen von John Cage, der Feldman mit Philip Guston 1950 bekannt machte. Guston beauftragte Morton Feldman, an seinem Grab „Kaddisch zu sprechen“ – nachdem die beiden die letzten acht Lebensjahre Gustons nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Feldman gab später an, dass sein eigener ästhetischer Fanatismus die Ursache für diesen Bruch gewesen sei – und er mit dem Stück der Wendung, die Guston eingeschlagen habe, nachfolgen wollte: „Aufhören Fragen zu stellen“.

André Fatton


Morton Feldman, Sohn einer ukrainischen Einwanderer-Familie, wurde am 12. Januar 1926 in New York geboren. 1941 begann er sein Studium bei Wallingford Riegger und Stefan Wolpe. 1949 traf Feldman John Cage, was sich als eine der inspirierendsten Begegnungen seiner musikalischen Laufbahn herausstellte. Daraus entstand eine wichtige künstlerische Vereinigung in New York, die sich der Musik Amerikas der 1950er Jahre kritisch gegenüberstellte. Weitere Freunde und Beteiligte der damaligen New Yorker Künstlerszene waren die Komponisten Earle Brown und Christian Wolff, die Maler Mark Rothko, Philip Guston, Franz Kline, Jackson Pollock und Robert Rauschenberg, sowie der Pianist David Tudor. Die Kunstmaler beeinflussten Feldman, seine eigene Klangwelt zu finden, eine Klangwelt, die unmittelbarer und physischer war als sie je zuvor existiert hat. Daraus folgten seine Versuche mit graphischer Notation. Da jedoch diese Art von Notation allzu sehr in die Nähe der Improvisation führte, war Feldman nicht zufrieden wegen der Freiheit der Interpreten und den Ergebnissen, die daraus entstanden. Deshalb distanzierte er sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wieder davon. 1973 wurde Feldman von der „University of New York“ in Buffalo zum Edgar Varèse-Professor berufen, eine Stelle, die er bis zum Ende seines Lebens behielt. Im Juni 1987 heiratete Morton Feldman die Komponistin Barbara Monk. Am 3. September 1987 starb er in seinem Haus in Buffalo im Alter von 61 Jahren.


„For Philip Guston“

In den frühen 1980er Jahren, der Schlussperiode seines kompositorischen Schaffens, beschäftigte Feldman sich weiterhin mit dem Verfahren, „Materialien verschmelzen zu lassen“. Seine musikalische Sprache wird geprägt durch rhythmische „Patterns“ oder melodische Gesten, die sich innerhalb wiederkehrender Zyklen leicht verändern. Diese melodischen Gesten oder Akkorde sind oft von Stille umschlossen (Pausen in der Musiknotation). Solche Momente der Stille sind Teil des ganzen Musters oder Zyklus. Feldman schuf grosse Bewusstseinsblöcke – ein Bewusstsein des Augenblicks, eine Erinnerung an Strukturen oder an den Zustand des Andersgewesenseins oder Andersseins, und mithin einen „Erzählstil“. Feldman erreicht einen einheitlichen Stil, indem er gewisse Parameter für alle späteren Stücke festlegt: so ist das Tempo meist Viertel gleich 63 – 66 pro Minute, die Dynamik bewegt sich im Bereich ppp – ppppp. Die Einheitlichkeit erstreckt sich bis in den graphischen Bereich: jede Zeile seiner Partituren ist eingeteilt in 9 Takte von gleicher Länge, unabhängig vom wechselnden Metrum. Im Bereich der Kammermusik schrieb er von da an wiederholt Werke mit einer Spieldauer von 45 bis 60 Minuten, sogar vier- bis fünf-stündige Stücke, wie „String Quartet II“ (1983) oder „For Philip Guston“ (1984). Er hat insgesamt 9 Werke geschrieben, die länger als 70 Minuten dauern.

Eine weitere Herausforderung an die Interpreten ist Morton Feldmans Polymetrik. Er wendet sie sogar in Orchesterwerken und in seiner Oper „Neither“ (1977) an. Erschwert wird diese Kompositionsweise dadurch, dass Feldman ab den späten 1970er Jahren – beeinflusst von anatolischen Teppichmustern – eine Raster-Notation bevorzugt, bei der alle Takte graphisch die gleiche Länge haben – unabhängig von der zeitlichen Dauer der Takte. Daraus ergibt sich eine „Nicht-Simultaneität“ des Schriftbildes, ähnlich wie bereits bei den „Durations“-Stücken (1960/61), bei denen nur der erste Klang simultan beginnt, danach aber jedes Instrument sein eigenes Tempo spielt. Auf die Spitze getrieben hat Feldman das polymetrische Prinzip im Trio „For Philip Guston“. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die drei Instrumente bis zu 9 Takte lang mit individuellen Taktwechseln musizieren, danach aber koordiniert landen müssen, da die polymetrischen Passagen der 3 Instrumente immer exakt die gleiche Länge haben.

Ich habe in meiner Neuausgabe des Stücks versucht, eine Notation zu entwickeln, die einerseits das Zusammenspiel der Instrumente erleichtert, andererseits die Polymetrik so belässt, wie sie Feldman komponiert hat. Mit anderen Worten: Jeder Instrumentalist spielt seinen Part unabhängig von den zwei Mitspielern, kann aber zu jedem Zeitpunkt mitverfolgen, wo sich die anderen zwei Instrumente gerade befinden. Das bedeutet: es muss aus drei verschiedenen Spielpartituren gespielt werden: jede mit der entsprechenden Metrik der drei Instrumente.

Jürg Henneberger

In diesem Programm suchen wir ganz bewusst nach musikalischen Wurzeln in der Musik der Renaissance und dem Frühbarock und deren Umsetzung in heutiger Zeit. Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino ist einer der Komponisten von heute, dessen Klangsprache eine ganz ureigene Farbe hat, die mit Sicherheit mitunter auf seine intensive Auseinandersetzung mit alter Musik fusst. Zwei seiner Werke, bei denen diese Auseinandersetzung offensichtlich wird, erklingen in diesem Programm. Das eine bezieht sich auf Carlo Gesualdo, das andere auf Alessandro Stradella.

Unser Gitarrist Maurizio Grandinetti setzte sich ebenfalls über Jahrzehnte mit alter Musik auseinander. Sein Zugang ist jedoch mehr eine Übersetzung alter Musik in unsere Zeit; musikalische Gesten und psychische Gefühlszustände, die der Musik immanent sind, werden in neuem Gewand und ungewöhnlich instrumentiert in unsere Zeit geholt, ohne den musikalischen Gehalt anzutasten – im Gegenteil.

Das Programm wird ergänzt durch einen Auftrag an den Basler Komponisten Lukas Langlotz, der sich in seiner Kompositionsweise ebenfalls ständig in fundierter Weise mit alter und ältester Musik auseinandersetzt. In seinem neuen Werk wird ein „Arciorgano“ zu hören sein, eine Orgel, die nach Plänen des italienischen Komponisten Nicola Vicentino aus dem 16. Jahrhundert in Basel gebaut wurde und 31 verschiedene Tonstufen pro Oktave ermöglicht.


Zu den Arrangements:

Nikolaus Harnoncourt schrieb 1982: „Die Musik der Vergangenheit ist durch das Fortschreiten der Geschichte, durch ihre Distanz zur Gegenwart und durch die Herauslösung aus dem Kontext ihrer Zeit zu einer fremden Sprache geworden. Einzelne Aspekte eines Musikstücks mögen zwar allgemeingültig und zeitlos sein, aber die Botschaft als solche ist an eine bestimmte Zeit gebunden und kann nur wiederentdeckt werden, wenn sie gleichsam in unser heutiges Idiom übersetzt wird.“

Heutzutage gibt es ein einzigartiges musikalisches Genre, bei dem Meisterwerke der Vergangenheit neu interpretiert werden, indem alte Meisterwerke in eine mehr oder weniger zeitgenössische Sprache übertragen werden. Mit meinen Bearbeitungen habe ich die Absicht, die ursprüngliche Musik mit meiner vollen Ausdrucksfähigkeit und Intuition zu betrachten und dabei tief in den Textteil einzudringen. Zu diesem Zweck wurden die Gesangs- und Textteile fast vollständig belassen, aber mit einem neuen instrumentalen Rahmen überlagert.

Das Material der Künste hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber ihre künstlerischen Inhalte werden in unserer bewussten Wahrnehmung der Gegenwart erkannt. Jedes Mal, wenn wir Kunst bewerten oder Musik hören, setzt unsere aktuelle Umgebung die Maßstäbe für unsere künstlerische Wahrnehmung. Es liegt an uns zu entscheiden, wie „ursprünglich“ das Objekt sein muss, um es zu erkennen. Was die Restaurierungen der Renaissance betrifft, so wissen wir, dass die Restauratoren damals die Statuen mit dem Geist ihrer eigenen Zeit verbanden und sie in eine neue Sprache übertrugen, die die für ihre Epoche typische Energie vermittelte. Der große Kunsthistoriker Cesare Brandi interpretierte die Renaissance nicht als Wiederbelebung der Antike, sondern als Verklärung universeller Konzepte, als Teil eines völlig neuen kreativen Prozesses.

Heute finden wir die Musik der Renaissance und des Vorbarocks vor allem aufgrund dessen attraktiv, was die Autoren nicht in Partituren festgehalten haben: der Teil, der der Improvisation und dem Arrangement vorbehalten ist. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Gewohnheit angenommen, dass jede Komposition nur einer Interpretation entsprach: der originalgetreuen. Nichts wurde der persönlichen Freiheit überlassen. Was würde mit der abendländischen klassischen Musik geschehen, wenn man versuchen würde, ein wenig asiatische und afrikanische Empfindsamkeiten zu nutzen, wenn man „immaterielle“, symbolische, rituelle oder religiöse Werte berücksichtigen würde, anstatt sich mit ihrer historischen Authentizität zu beschäftigen?

Schließlich ist die Aufführung eines jeden alten Musikstücks eine Feier der Abwesenheit des Originals und seines Urhebers. Wir müssen uns entscheiden, ob wir diese Abwesenheit verbergen oder sie vollständig anerkennen wollen.

Maurizio Grandinetti

Der Einfluss des literarischen Werks des irischen Dichters James Joyce (1842–1941) auf die Komponisten des 20. Jahrhunderts ist eminent. Samuel Barber, John Cage („Roaratorio“), Luigi Dallapiccola, Luciano Berio, Pierre Boulez („3. Klaviersonate“), Bernd Alois Zimmermann („Antiphonen“) und viele andere haben sich von diesem zukunftsweisenden Poeten inspirieren lassen. Luciano Berio vertonte drei Texte aus dessen frühem Gedichtband „Chamber Music“. Der wohl am häufigsten verwendete Text ist der Schluss-Monolog der Molly Bloom aus „Ulysses“. Dieser liegt auch den Werken „Skin“ und „O, Yes & I“ der englischen Komponistin Rebecca Saunders zugrunde. Als Uraufführung wird ein neues Werk des deutschen Komponisten Matthias Heep erklingen. Dieser bezieht sich mit seiner Komposition auf Joyces letzten Roman „Finnegans Wake“.


Für den erkrankten Dirigenten Jürg Henneberger ist kurzfristig Sebastian Gottschick eingesprungen

sämtliche Duos von Gérard Grisey und sämtliche Duos für Streicher von Giacinto Scelsi

Als Ensemble für Neue und Neueste Musik ist es uns ein Anliegen, wichtigen Strömungen der aus heutiger Sicht „historischen“ Neuen Musik Raum zu geben und deren Modernität „nachzuhören“. Gewisse Pioniere Neuer Musik sind unabdingbar und offensichtlich bedeutsam für den weiteren Verlauf musikgeschichtlicher Entwicklungen, andere wieder Endpunkte, dritte Erscheinungen einer in sich geschlossenen Welt ohne direkten Bezug zum Vor- und Nachher. Ein besonders eigenwilliger Repräsentant der dritten Gattung ist Giacinto Scelsi, Graf von d’Ayala Valva, dessen Musik nicht stringent in das Bild der Strömungen der Moderne passt; seine Musik wird wohl immer einzigartig und unverwechselbar klingen.

Gérard Grisey ist im Gegensatz zu Scelsi der Begründer einer der wichtigsten Strömungen Neuer Musik; der „Spektralismus“ beeinflusst bis heute Generationen von Komponist:innen. Grisey durchlief – im Unterschied zum weitgehend autodidaktischen Scelsi – eine vollständige musikalische Ausbildung an Hochschulen und war im direkten Kontakt mit allen „Grossen“ der Zeit wie Ligeti, Stockhausen oder Xenakis. Grisey war mit der Musik von Giacinto Scelsi eng vertraut, die er während seines Italien-Aufenthalts in der Villa Medici 1972–1974 für sich entdeckte.

In diesem Programm stellen wir diese beiden Komponisten einander mit ihrem Duo-Schaffen gegenüber; von Grisey erklingen sämtliche Duos für zwei Soloinstrumente, von Scelsi diejenigen für zwei Streichinstrumente – im Programm sich gegenseitig intarsierend.

Seit 22 Jahren ist für uns das kompositorische Werk des Amerikaners Morton Feldman Herzensangelegenheit. Seine Werke zeichnet eine aussergewöhnliche stilistische Vielfalt aus, die von graphischen Partituren bis zu äusserst komplexen, polyrhythmischen Kompositionen reicht. Ein Beispiel dafür ist sein Trio „Bass Clarinet and Percussion“: das Schlagzeugduo und die Bassklarinette gehen zwei metrisch unabhängige und eigenständige Wege, die sich jedoch am Ende jeder Partiturseite wieder kreuzen. Feldman verkehrte in den Künstlerkreisen New Yorks und hatte freundschaftlichen Kontakt mit den bedeutendsten Malern und Dichtern seiner Zeit. Das Septett „For Frank O’Hara“ ist eine Hommage an den 1966 tödlich verunfallten Dichter. Samuel Beckett schrieb für Morton Feldman das Libretto für seine einzige Oper „Neither“. Die Neuvertonung des Beckett-Hörspiels „Words and Music“ sowie die kompositorische Hommage „For Samuel Beckett“ sind beide in Feldmans Todesjahr 1987 entstanden.

Der aus Litauen stammende Komponist Arturas Bumšteinas schrieb nach dem Vorbild der legendären „Vexations“ von Erik Satie, die gemäss einer kryptisch formulierten Spielanweisung 840 mal wiederholt werden sollen, eine lose Folge von 40 Kurzkompositionen für das EPhB, die von Saties Material ausgehen und das Werk quasi „de-komponieren“. Die Quelle dient als „Steinbruch“ oder „Inspirationsquelle“ für Miniaturen in verschiedensten Instrumental-Kombinationen.

AUFGRUND DER AKTUELLEN CORONA-KRISE ABGESAGT!


Anstatt ein weiteren Onlinestream in die Netzwelt zu stellen und zu versenden, produzieren wir von diesen neuen Stücken eine LP. Und somit etwas Handfestes und Greifbares.


Im Zentrum des Programms steht ein Doppelkonzert für zwei Gitarren und Ensemble, das er für den in Basel lehrenden Gitarristen Pablo Márquez und den Gitarristen des „Ensemble Phoenix Basel“ Maurizio Grandinetti geschrieben hat. Sein Werk „Oltre“ ist eine Hommage an seinen Lehrer Franco Donatoni (1927–2000).

Das Programm wird ergänzt durch ein neues Werk des in Basel lebenden Komponisten Balz Trümpy.


Der mexikanische Komponist Javier Torres Maldonado hat in Mailand bei Franco Donatoni und Ivan Fedele studiert. Seine Musik basiert auf dem Obertonspektrum eines Klanges und ist durch Überlagerung verschiedener melodischer und rhythmischer Schichten äusserst komplex. Maldonado vergleicht seine musikalische Sprache mit der Bildersprache von Piranesi und M. C. Escher, die durch ihre imaginierte Perspektive eine Scheinwelt schafft, die eine individuelle Sichtweise nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert. Das Ohr soll sich wie eine rotierende Linse auf verschiedene räumliche und zeitliche Ebenen fokussieren.

Der ungarische Komponist György Ligeti hat in den 1960er Jahren die Technik der „Mikropolyphonie“ entwickelt, die sein Schaffen unverwechselbar geprägt hat. In den 1980er Jahren lernte er die Musik für Pianola von Conlon Nancarrow sowie die „just intonation“, die Harry Partch entwickelt hat, kennen. Gleichzeitig entdeckte er in der Musik des afrikanischen Volksstamms der Aka-Pygmäen eine einzigartige Rhythmik, die ihn faszinierte und beeinflusste. Die europäische Musik des XVI. Jahrhunderts hat mit ihrer komplexen polyphonen Struktur und der mitteltönigen Stimmung sein Spätwerk geprägt.

Sein Schüler Detlev Müller-Siemens hat in seinem „Phoenix“-Zyklus die melodische und harmonische Komplexität seines Lehrers auf eine eigene Art übernommen. Seine Musik beschreibend, spricht er von „wuchernden, zwischen stets dem gleichen Anfangs- und Schlusston – wie Vogelschwärme – frei im Raum schwebenden, mäandernden Linien, denen allen eine melodisch-harmonische ‚Grundfarbe‘ gemeinsam ist. Insgesamt bewegt sich jedes der drei Stücke auf eigene Weise zwischen den Extremen einer steinern-kompakten Klanglichkeit einerseits und einer linienartig-verschlungenen Melodik andererseits.“


Nach der Covid-19-Verordnung des Kantons BS vom 20. 11. 2020 sind bei öffentlichen Veranstaltungen momentan nur noch maximal 15 Personen zugelassen.

Mario Davidovsky ist eine der ganz grossen Figuren der Amerikanischen Neuen Musik – in Europa jedoch bisher kaum gespielt. Als Pionier der Elektronischen Musik arbeitete er bereits 1960 am „Columbia-Princeton Electronic Music Center“. Sein Werk umfasst bei weitem nicht nur elektronische Musik. Seine berühmtesten Werke, die „Synchronisms“, eine Reihe von über einem Dutzend Werken, die in einem Zeitraum von mehr als 40 Jahren entstanden sind, prägten Generationen von Komponist*innen. Bei der Kombination „klassischer“ Instrumente mit vorproduzierten elektronischen Klängen interessiert sich Davidovsky im Unterschied zu vielen anderen Komponist*innen dieses Genres in keiner Weise für besondere „Sound Effects“, sondern sucht nach einer Verschmelzung des Instrumentalklanges mit der Elektronik, woraus sowohl Kontinuität als auch immanenter musikalischer Ausdruck entstehen. Die frühesten „Synchronisms“ entstammen einer Zeit, in der unsere heutige „sound technology“ noch in den Kinderschuhen steckte, sind aber nichts desto trotz Meisterwerke, die ihresgleichen suchen; die lange Zeitspanne, in der die „Synchronisms“ entstanden sind, dokumentiert ausserdem den technischen Fortschritt auf diesem Gebiet im Lauf der Zeit. Neben ungewöhnlich vielen Auszeichnungen für sein Schaffen erhielt Mario Davidovsky im Jahr 1971 explizit für sein Werk „Synchronisms No. 6“ den Pulitzer-Preis.


Da die Konzerte Pandemie-bedingt abgesagt werden mussten, entschloss sich das EPhB zu einer kombinierten Audio- und Video-Produktion. Bandcamp

Das kompositorische Schaffen des griechischen Komponisten Iannis Xenakis ist ein wichtiger Pfeiler für die Musik des 20./21. Jahrhunderts und hat seinen festen Platz in unseren Programmen. Das Duo Oophaa widmete Xenakis der Cembalistin Elisabeth Chojnacka und dem Schlagzeuger Sylvio Gualda, die das Werk 1989 uraufführten. Xenakis schrieb einen Cembalopart, der für zwei menschliche Hände nur durch Oktavierung einzelner Töne spielbar ist. Das Werk kommt in diesem Konzert in einer Version für zwei speziell umgestimmte Cembali, die es erlaubt, die ursprüngliche Gestalt spielbar zu machen, zu seiner posthumen Uraufführung.

Der zweite Teil des Programms widmet sich drei Schweizer Komponist:innen, die auf verschiedene Weise mit Basel verbunden sind. Der in Nigeria geborene Hanspeter Kyburz unterrichtete von 2000 bis 2002 Komposition an der Hochschule Basel und war Leiter des Elektronischen Studios Basel. Seitdem lebt und unterrichtet er in Berlin. Er wurde bekannt durch sein algorithmisches Kompositionsverfahren, das er auch in seinem Quintett Danse aveugle verwendet hat. Xenakis’ Titel Plektó („Flechte“) könnte auch auf dieses Werk zutreffen: einen blind taumelnden Tanz, der sich in schwindelerregende Höhen schwingt, bis er gleichsam zum Absturz führt und in Erschöpfung endet. Der in Basel lebende amerikanische Komponist Gerald Bennett hat in Basel bei Klaus Huber studiert und 1967–1976 an der Musikakademie Basel unterrichtet. Seine Werke sind in Basel jedoch nahezu unbekannt. Das Konzert schliesst mit einer Uraufführung der in Allschwil lebenden Komponistin Heidi Baader-Nobs. Sie stammt aus Delémont und hat in Basel bei Robert Suter und Jacques Wildberger Komposition studiert.

EPhB führte in der Saison 2018/19 zum dritten Mal einen biennalen internationalen Kompositions-Workshop durch. In drei vorbereitenden Modulen (diese unterstützt durch die Schweizer Kulturstiftung „Pro Helvetia“) bekommen junge Komponist*innen zu Beginn ihrer Karriere die Gelegenheit, mit uns als professionellem Spezialisten-Ensemble über den Zeitraum von 18 Monaten zu experimentieren. Für das abschliessende vierte Modul – als integraler Teil der Konzertreihe des Ensemble Phoenix Basel – erhalten zwei ausgewählte Absolvent:innen der Vorbereitungsphase den Auftrag, mit einer neuen Komposition einen musikalischen „Kommentar“ zu einem Zentralwerk des 20. oder 21. Jahrhunderts zu komponieren. Die neuen Kompositionen sollen quasi als „Trabanten“ dieses Werk „umkreisen“, d.h. Bezug darauf nehmen oder dieses kontrastieren. 2020 werden sich die drei Trabanten um Chain 1 des polnischen Komponisten Witold Lutosławski drehen, eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts, das in Zentraleuropa viel zu wenig bekannt ist.

In diesem dritten „Trabant“-Wettbewerb geht der 1. Preis an Hovik Sardaryan, der 2. Preis ex aequo an Tobias Krebs und Victor Alexandru Coltea.

Das kompositorische Schaffen Heinz Holligers, der am 21. Mai 2019 seinen 80. Geburtstag feierte, ist seit 1975 geprägt vom Spätwerk Friedrich Hölderlins, der sich in seinen letzten drei Jahrzehnten, die er in Tübingen in einer Turmstube des Haushalts des Tischlers Ernst Zimmer verbrachte, gern als „Scardanelli“ bezeichnete. Der Komponist Holliger interessiert sich seit früher Jugend für Dichterpersönlichkeiten, die sich der gesellschaftlichen Norm zu entziehen versuchten – sei es durch Suizid (Alexander Xaver Gwerder, Paul Celan) oder Flucht in die sogenannte „geistige Umnachtung“ (Friedrich Hölderlin, Nikolaus Lenau, Robert Schumann, Robert Walser, Louis Soutter) oder Depression (Clemens Brentano). Holligers Eisblumen ist eine Paraphrase des Bach-Chorals „Komm o Tod, Du Schlafes Bruder“. „Ad marginem“ führt uns an die (akustischen) Grenzen bis zur vollkommenen Unhörbarkeit. „Puneigä“ ist eine Hommage an den vom Aussterben bedrohten Pumatter Dialekt, in dem die Dichterin Anna Maria Bacher ihre Gedichte verfasst. Der Riehener Komponist Jacques Wildberger verwendete in seinen Werken ebenfalls Gedichte von Friedrich Hölderlin oder Paul Celan. In seinem Spätwerk „Elegie“ verwendet er Hölderlins Gedicht „Sonnenuntergang“. Von Holligers Kompositionslehrer Sándor Veress wird ein Werk aus dem Nachlass für Flöte und Streicher aufgeführt.

Das Zentralwerk dieses Polnisch-Schweizerischen Programms in Koproduktion mit „Culturescapes 2019 – Polen“ ist das für diesen Anlass entstehende Konzert „Con Clavi III“ von Ryszard Gabryś für Cembalo, Kontrabass und Ensemble. Umrahmt wird diese Uraufführung von zwei Werken der polnischen Komponisten Bolesław Szabelski und Paweł Szymański. Einen Schweizer Bezug schaffen wir mit einem Quintett für Klavier mit Bläsern und Streichern des Polnisch-Schweizerischen Komponisten Constantin Regamey, dessen zu Unrecht fast vergessene Musik das Programm eröffnet. Die musikalische Realisation einer graphischen Komposition des Polnisch-Israelischen Komponisten, Musikologen, Graphikers und Malers Roman Haubenstock-Ramati schliesst den Abend.

Wir gehen in diesem Konzert der Frage nach, was für eine Rolle die Melodie noch in der zeitgenössischen Musik spielt. György Ligeti hat bereits 1971 mit seinem Titel des Orchesterwerks Melodien diese provokative Frage gestellt.

Der aus Biel stammende Christophe Schiess war Kompositionsstudent bei Georg Friedrich Haas. Seit 2008 pflegen wir einen intensiven künstlerischen Austausch mit ihm. Das Werk „Empreintes de temps“ wurde von uns im Rahmen der “Schlusskonzerte Komposition” der Hochschule für Musik Basel 2010 vom EPhB uraufgeführt.

Georg Friedrich Haas unterrichtete von 2005 bis 2013 an der Hochschule für Musik Basel. Er hat nicht nur dort, sondern für die ganze Musikstadt Basel musikalisch wichtige Akzente gesetzt (erwähnenswert hier In Vain 2003 am Theater Basel, … damit … die Geister der Menschen erhellt und ihr Verstand erleuchtet werden … 2010 anlässlich des “Dies Academicus” im Basler Münster, beides mit dem EPhB).

Eine Urlust am Experimentieren mit Stimmen verbindet die drei Komponisten dieses Programms.

Milton Babbitt studierte erst Mathematik und wechselte später zur Musik. Er definierte in den 1940er Jahren als erster die „serielle Musik“, trug entscheidend zur Entwicklung von „Musiktheorie“ als akademischem Fachgebiet bei und gilt heute in den USA als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Babbitt’s Werk „Arie da capo“ spielt doppeldeutig auf seinen Auftraggeber, die „Da Capo Chamber Players“ aus New York an. In dieser Komposition bekommt jedes der fünf Instrumente seine Arie.

Paul Dolden ist ein lustvoller Grenzgänger zwischen musikalischen Kategorien. Sein virtuoser und intelligenter Umgang mit sich elektronisch vervielfachenden Schichten führen zu einem verbindenden Hörerlebnis zwischen den verschiedenen musikalischen Sparten.

Wiewohl als umfassender Musiker kaum auf eine Sparte festlegbar, verstand sich John Zorn immer zu allererst als Komponist. Kompositorisch in Anlehnung an Schönbergs „Pierrot lunaire“, schuf er 2003 mit „Chimeras“ ein Aufsehen erregendes Werk zwischen klassischem Duktus und chaotischen Ausbrüchen.

Dieses Konzert ist eine Hommage an den Basler Komponisten Rudolf Kelterborn. Er war von 1983 bis 1994 Direktor der Musik-Akademie Basel. In seiner Kompositionsklasse waren u.a. die zwei jüngeren Basler, von denen in diesem Konzert je ein Werk zu hören sein wird. Mit allen drei Komponisten pflegen wir eine jahrelange, kreative Zusammenarbeit. In der neuen Komposition «Encore» vertont Kelterborn Texte von Georg Rudolf Weckerlin, Georg Trakl, Erika Burkart und Johann Wolfgang Goethe sowie japanische Haikus. Der Zyklus ist „Jürg Henneberger – in Dankbarkeit“ gewidmet.

Unser starkes Interesse für elektronische Musik als Erweiterung des herkömmlichen Instrumentariums liess uns auf den englischen Komponisten Jonty Harrison aufmerksam werden. Dieser hat seit 1992 neben vielen akusmatischen Werken nur einzelne Werke für Ensemble plus Elektronik komponiert – so auch «Force Fields». Womöglich auch aufgrund der Beschränkung auf wenige Kompositionen gehören diese zum Besten, was diese Sparte zu bieten hat.

Flankiert wird Harrison’s Werk durch zwei Aufträge an die zur Zeit noch in Basel wirkenden Komponisten Keitaro Takahashi und Andreas Eduardo Frank, die sich bereits während ihres Studiums international zu Recht einen Namen insbesondere im Bereich komponierter Musik mit Elektronik gemacht haben – ein „Showcase“ für Elektronik!

Das kompositorische Schaffen des griechischen Komponisten Iannis Xenakis ist ein wichtiger Pfeiler für die Musik des 20. Jahrhunderts und hat seinen festen Platz in unseren Programmen. Es ist ebenfalls eine Inspirationsquelle für den Schweizer Komponisten und Cellisten Martin Jaggi. Seine Komposition „Har“,  ist der erste Teil eines fünfteiligen Werkzyklus über die ältesten Hochkulturen dieser Erde.

„Clash“ – ein Wort ganz im Sinne unseres 2016 verstorbenen Freundes und Schlagzeugers Daniel Buess, dem wir dieses Programm widmen. Klirrendes Aufeinanderprallen verschiedener Materialien, das Kollidieren-Lassen unterschiedlichster Welten erfordern ein waches Zuhören und Zusehen.

Im gleichnamigen Werk von Jannik Giger – sowohl Komponist wie auch Videokünstler – prallen live gespielte und vorproduzierte Musik, die jazzige Klänge mit Akkorden aus Morton Feldmans zweitem Streichquartett konfrontiert, in äusserst virtuoser und spielerischer Weise mit einer Videoarbeit zusammen, die nicht nur reproduziert wird, sondern auch aktiv die Interpreten beeinflusst.

Mit dem Kompositionsauftrag an André Meier stellen wir Gigers „Clash“ ein Werk eines weiteren jungen Schweizer Komponisten entgegen, den wir seit vielen Jahren aufmerksam verfolgen.

In besonderer Weise sind die beiden Komponisten Alfred Knüsel und Thomas Lauck „an unseren Freund Daniel geraten“. Von widersprüchlichem Aneinandergeraten kann jedoch keine Rede sein, der „Clash“ ist hier eher im Sinne von intensivster Auseinandersetzung und einer ganz besonderen Suche nach Klang zu verstehen. Unabhängig von einander schrieben beide Komponisten ein Werk zu seinem Andenken.


Vorkonzert: Vermittlungsprojekt „AlltagSerialismus“:
Unser aller Alltag zeichnet sich durch eine Serie immer wiederkehrender Elemente aus. Diesen „Alltagstrott“ versucht das vom EPhB initiierte Vermittlungsprojekt „AlltagSerialismus“ zusammen mit einer Schulklasse der Sekundarschule Leonhard unter Leitung von Francesca De Felice und Sebastian Meyer kritisch zu reflektieren. Im Verlaufe des Projektes entstanden in kleinen Gruppen vier kurze Tonbandstücke, welche nun im Rahmen eines Vorkonzertes des EPhB präsentiert werden. In diesen Stücken werden Klänge/Geräusche, welche die Jugendlichen in ihrem Alltag aufgenommen haben, auf verschiedenste Arten verarbeitet, neu kontextualisiert, analysiert und kommentiert. Dadurch werden die Jugendlichen sowohl auf ihre alltägliche Geräuschumgebung sensibilisiert wie auch dazu angeregt ihren Alltag verstärkt zu reflektieren.

Jean Barraqué ist einer der «grossen Unbekannten» der französischen Avantgarde, der zeit seines Lebens neben Pierre Boulez einen schweren Stand hatte. Dieses Konzert stellt eins seiner (ge-)wichtigsten Spätwerke neben zwei Frühwerke von Boulez und Karlheinz Stockhausen, welche zu Beginn ihres kompositorischen Schaffens zu den Hauptvertretern des «Serialismus» zählten, einer Kompositionstechnik, die als konsequente Weiterentwicklung der Zwölftontechnik bezeichnet werden kann.
Eine spannende Hörerfahrung, im gleichen Programm ein dodekaphones Werk von Anton Webern, einem Vertreter der «Neuen Wiener Schule», neben streng seriellen Werken zu erleben.

Wer verbindet die USA unserer Zeit mit überschäumender Kreativität, wirklicher künstlerischer Freiheit, unbegrenztem Raum für Experimente?

Dieses Programm mit den drei Grössen Elliott Sharp, Eric Chasalow und John Zorn widmen wir genau diesem Amerika!

Alle drei Komponisten gehören der mittleren Generation der experimentellen Avantgardeszene von New York an. Der Improvisator und Bandleader John Zorn schrieb in den Achtziger Jahren mehrere „game pieces“, eine Art musikalische Kartenspiele, die eine Art „geführte“ Improvisationen sind. Das berühmteste davon ist wohl Cobra, das sowohl von der Besetzung als auch von der Dauer her nicht festgelegt ist.

Der Gitarrist und Komponist Elliott Sharp lässt sich stilistisch schwer einordnen, da er sich mit seiner Musik zwischen den Genres Rock-, Jazz- und Neue Musik bewegt und damit für sich selbst steht und unverwechselbar ist.

Eric Chasalow – ebenfalls lustvoller Grenzgänger zwischen den Sparten – hat bei Mario Davidovsky Komposition studiert und lehrt an der Brandeis University in Boston. Er ist künstlerischer Leiter des Festivals für elektroakustische Musik BEAMS.

EPhB führte in der Saison 2016/17 zum zweiten Mal einen biennalen internationalen Kompositions-Workshop durch. In drei vorbereitenden Modulen – diese unterstützt durch die Schweizer Kulturstiftung “Pro Helvetia” – bekommen junge Komponist(inn)en zu Beginn ihrer Karriere die Gelegenheit, mit uns als professionellem Spezia­listen­ensemble über den Zeitraum von 18 Monaten zu experimentieren.

Für das abschliessende vierte Modul – dann als integraler Teil unserer Reihe – erhalten zwei ausgewählte Absolvent(inn)en der Vorbereitungsphase den Auftrag, mit einem neuen Werk einen musikalischen “Kommentar” zu einem Zentralwerk des 20. oder 21. Jahrhunderts zu komponieren. Die neuen Werke sollen quasi als “Trabanten” diese Komposition “umkreisen”, d.h. Bezug darauf nehmen oder diese kontrastieren. 2017 werden sich die beiden Trabanten um das «Kammerkonzert», eines der Hauptwerke des ungarischen Komponisten György Ligeti drehen.

Die aus dem Iran stammende Elnaz Seyedi hat in Bremen bei Younghi Pagh-Paan, in Basel bei Caspar Johannes Walter und an der Folkwang Universität der Künste Essen bei Günter Steinke Komposition studiert. Mit ihrem Werk Detaillierter Blick beleuchtet und reflektiert sie verschiedene Stimmungszustände von Ligetis Meisterwerk, ohne dieses direkt zu zitieren.

Der aus der französischen Schweiz stammende Komponist und Saxophonist Kevin Juillerat studierte in Lausanne bei Pierre-Stéphane Meugé und in Basel bei Marcus Weiss Saxophon. Gleichzeitig studierte er in Genf bei Michael Jarrell und Luis Naon sowie in Basel bei Georg Friedrich Haas Komposition. Sein neues Werk TOMBEAU verwendet ganz konkret einzelne „Bausteine“ aus Ligetis Kammerkonzert, um sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen und weiterzuentwickeln, bis sie kurz vor Schluss in ein kurzes wörtliches Zitat münden, das abrupt abbricht und zu einem offenen Ende führt.

Zwei gewichtige Kammerwerke der «Neuen Wiener Schule» stellt das Eröffnungskonzert der Saison 2015/16 vor und gegenüber: Arnold Schönbergs «Kammersymphonie» op. 9 (1906) und Alban Bergs «Kammerkonzert» (1924/25). Schönbergs «Kammersymphonie» ist mit der ersten Fassung für 15 Instrumente, die er 1906 fertigstellt, keineswegs beendet. Er ringt jahrzehntelang immer wieder um die richtige Besetzung, die richtige «Grösse» dieser Symphonie, er reagiert aber teilweise auch auf die bekanntlich nicht nur enthusiastische Aufnahme des Stückes durch das Wiener Konzertpublikum. Für Bearbeitungen bietet sich diese Symphonie in einem einzigen Satz an; auch Anton Webern hat sich daran gewagt und eine Fassung für fünf Instrumente (der gleichen Instrumentation wie in Schönbergs «Pierrot Lunaire») erstellt, die im Konzert in einer von Jürg Henneberger revidierten Version erklingt. In Schönbergs Augen war die «Kammersymphonie Nr. 1», die ja auch noch den tonalen Untertitel in E-Dur besitzt, ein eigentliches Wendewerk. Er erhoffte, dass ein «Weg aus den verwirrenden Problemen gewiesen wäre, in die wir jungen Komponisten durch die harmonischen, formalen, orchestralen und emotionalen Neuerungen Richard Wagners verstrickt waren». Die Probleme mit der ersten sowie der gleich darauf begonnenen «Kammersymphonie Nr. 2», mit der Schönberg gänzlich stecken blieb, zeigt, dass dieser Ausweg doch nicht so mühelos zu beschreiten war.

Albans Bergs «Kammerkonzert» (1924/25) wird etwas zu häufig reduziert auf seinen Charakter als Widmungswerk zu Schönbergs fünfzigstem Geburtstag 1924. Er habe «seine Brillanz zeigen wollen», braucht man dann nur noch von Berg zu lesen, um in dem Werk einen falschen, über-ambitionierten Gestus zu vermuten. Und man würde der wundervollen und vollen Musik Unrecht tun, deren Komplexität unbestritten dicht und tief ist – Adorno nannte sie «eine Art von Unersättlichkeit». Von knapp doppelter Dauer im Vergleich zu Schönbergs «Kammersymphonie», hat Bergs Werk die Anlage eines Doppel-Konzertes für Klavier und Violine. Die formalen Details, mit denen Berg auf seine Freundschaften mit Webern und Schönberg hinweist, sind zahlreich und in jedem entsprechenden CD-Booklet nachzulesen. Wesentlicher ist auch für Berg selbst das «verborgene» Programm, das in einem Synthese-Schritt der drei Sätze – «Freundschaft, Liebe, Welt» hatte Berg ursprünglich skizziert – und der zwei Solo-Instrumente resultiert. In der hier gespielten Einrichtung von Alban Berg und Jürg Henneberger wird ein Teil der ursprünglich 13 Blasinstrumente durch ein zweites Klavier ersetzt.

Als Bindeglied dieser beiden «Hauptwerke» erklingt Anton Weberns «Konzert» (1934) für neun Instrumente. Im Gegensatz zu Bergs «Kammerkonzert» gibt es hier kein Soloinstrument. Weberns Konzert ist vielmehr ein Dialog zwischen neun Instrumenten, die alle sowohl solistische als auch kammermusikalische Aufgaben übernehmen.