Nachdem der argentinische Komponist Alberto Ginastera mit seiner zweiten Oper «Bomarzo» bei seiner Premiere 1967 in Washington, D.C. ein finanzielles Fiasko erlebt hatte (der damalige militärische Führer Argentiniens, Juan Carlos Onganía, zensierte die Oper aufgrund des Librettos, das Folter, Missbrauch, Obsession, Homosexualität und Impotenz thematisierte), entschied er sich dafür, sein Heimatland zu verlassen. Er liess sich 1971 in Genf nieder, wo er seine zweite Frau Aurora Nátola heiratete, eine argentinische Konzertcellistin, für die er einige bedeutende Werke, u. a. die «Serenata» op. 42, geschrieben hat. Er wählte für dieses Werk drei Gedichte aus Pablo Nerudas «Love Poems», die er für den puertoricanischen Bassbariton Justino Díaz vertonte, der bei seiner Oper «Beatrix Cenci» 1971 die männliche Hauptrolle sang. In seinem Spätwerk vereinte Ginastera seinen dramatischen Stil, der in seinen drei Opern vorherrscht, mit einem Lyrismus, der v. a. in seinen späten zwei Cellokonzerten zum Ausdruck kommt.
Im Jahr 2002 erteilte der Konzertveranstalter «Ciclo de musica contemporánea del Teatro San Martín, Buenos Aires, Argentina» sieben einheimischen Komponisten den Auftrag, ein Werk zu schreiben, das sich auf die Komposition «4’33’’» (1952) von John Cage bezieht, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feierte. Erik Oñas Beitrag war das 12-minütige Sextett «De la incomprención de un silencio» (Ein Missverständnis von einer Stille).
Zu seiner Entstehung schreibt Erik Oña:
Das Stück sollte in Buenos Aires uraufgeführt werden. Es sollte in irgendeiner Weise mit «4’33’’» von John Cage zu tun haben. Die verschiedenen Möglichkeiten, die Stille dieses Stücks zu interpretieren, reizten mich zuerst. Bald erinnerte ich mich an ein anderes stilles Ereignis, das mich in der Vergangenheit heimgesucht hatte und an das ich mich bis dahin kaum erinnern konnte. In den achtziger Jahren wurde ein siebzehnjähriges Mädchen in einer argentinischen Provinz ermordet, offenbar durch den Sohn eines Regierungsbeamten. Lange Zeit sah es so aus, als würden die Anwälte dieses Mannes mit Hilfe der mächtigen Verbindungen seines Vaters dazu beitragen, dass er sich der Justiz entzieht. Dies war während der ersten demokratischen Regierung, die auf die Militärjunta folgte. Die Menschen waren der Misshandlungen überdrüssig und misstrauten der Macht, und sie gingen auf die Strasse, um Ungerechtigkeiten anzuprangern. Die Tausende von Demonstranten trugen weder Schilder noch sangen oder riefen sie Slogans, sie marschierten einfach in völliger Stille. Das Schweigen, das im Spanischen oft mit Zustimmung assoziiert wird, wurde zu einem Zeichen des starken Widerstands, es unterstrich die Anwesenheit all dieser Körper, die Widerstand leisteten, und machte es unmöglich, sie zu ignorieren.
Aus Cages Stück können wir Ideen oder Haltungen entnehmen, keine Materialien oder musikalischen Zitate; mit Ausnahme der Dauer, die in diesem Fall das strengste Zitat wäre. Die Dauer ist hier nicht, wie in der traditionellen Musik, der Ankunftspunkt für die Entwicklung der musikalischen Ideen, sondern der Ausgangspunkt. «4’33’’» verdeutlicht ein allgemeines Prinzip in der Musik von Cage: das Prinzip der Dauer. Wenn es eine Struktur geben soll, dachte Cage, dann eine rhythmische Struktur. Eine rhythmische Struktur (oder Struktur der Dauer) ist von Natur aus gastfreundlich: Sie kann von Klängen, Geräuschen und Stille bewohnt werden. Stille und Klang haben die Dauer gemeinsam. (Erik Oña – 2002)
Das Programm wird ergänzt durch das Sextett «Vertiges suspendus» des chilenischen Komponisten Matías Rosales, das 2023 vom Ensemble Court-Circuit in Auftrag gegeben und 2024 in Boulogne-Billancourt uraufgeführt wurde.
Die Musikologin Michèle Tosi schreibt über diese Aufführung:
Der Horizont verdunkelt sich und die instrumentale Virtuosität erreicht einen Höhepunkt mit «Vertiges suspendus» für Flöte, Klarinette, Streichtrio und Klavier, einem Auftragswerk von Court-Circuit für den jungen chilenischen Komponisten Matías Fernández Rosales. Die muskulöse Art und Weise, mit der er das Spektralfeld der Frequenzen erkundet, die der resonante Bass des Klaviers (Jean-Marie Cottet) mit einer energetischen Intensität freisetzt, ist beeindruckend. Diese Musik der Übergänge setzt sich immer wieder aufs Neue in Bewegung und lässt Momente der Glut durch die prächtigen multiphonen Klänge der Bassklarinette (Pierre Dutrieu) entstehen. Die Klangfarben verschmelzen zu einem mächtigen Meta-Instrument, das den Klang bis zur Sättigung trägt. (Michèle Tosi – 2024)
Programm
Matías Rosales (*1988)
«Vertiges suspendus» für 6 Instrumente (2023) – 17’
Erik Oña (1961–2019)
«De la incomprención de un silencio» für 6 Instrumente (2002) – 12’
Alberto Ginastera (1916–1983)
«Serenata» op. 42 (nach Gedichten von Pablo Neruda) für Bariton, Violoncello und Ensemble (1973) – 30’