Blanko

«Blanko 2025»

EPhB lädt einmal pro Jahr Experimental-Musiker mit eher nicht-akademischem Background zu einer Zusammenarbeit ein. Diese Künstler:innen stammen aus Bereichen wie Noise, Free Improvisation, Sound Art usw. Geplant ist eine spannungsgeladene Kombination der jungen chinesischen, in Berlin lebenden Performerin und Sound-Artistin Yiran Zhao mit dem gestandenen britischen Allroundmusiker Barry Guy und seinem Kontrabass. Beide werden je eine Konzerthälfte konzipieren und kuratieren.

Yiran Zhao ist eine in Berlin lebende Komponistin und Performerin. Sie ist musikalische Leiterin und Komponistin der experimentellen Musiktheatergruppe OBLIVIA, die in Helsinki ansässig ist. In ihren Arbeiten verbindet sie unterschiedliche Ausdrucksformen – Musik, Performance, Licht, Bildende Kunst und andere Medien. Seit ihrer Ankunft in Europa beschäftigt sie sich intensiv mit der Körperlichkeit von Performance und nutzt den menschlichen Körper sowie Objekte als kompositorisches Material.

Barry Guy ist ein innovativer Kontrabassist und Komponist, dessen kreative Vielfalt in den Bereichen Jazz-Improvisation, Solorezital, Kammer- und Orchestermusik aus einer ungewöhnlich breit gefächerten Ausbildung und einer grossen Lust am Experimentieren hervorgeht – getragen von seiner tiefen Hingabe zum Kontrabass und dem Ideal musikalischer Kommunikation.


Programm

Yiran Zhao (*1988) «Negative Space C – 寻» für Ensemble (2025, UA, Auftrag EPhB) – 30’ Barry Guy (*1947) «M.B.’s Breakout» für Ensemble (2025, UA, Auftrag EPhB) – 30’
Barry Guy
Kontrabass Solo
Christoph Bösch
Flöte, Künstlerische Leitung
Toshiko Sakakibara
Klarinette
Raphael Camenisch
Saxophon
Nenad Marković
Trompete
Michael Büttler
Posaune
Janne Jakobsson
Tuba
João Pacheco
Schlagzeug
Maurizio Grandinetti
E-Gitarre
Samuel Wettstein
Synthesizer
Martin Jaggi
Violoncello
Thomas Peter
Elektronik
Isaï Angst
Sounddesign
Gastspiel, Multimedia Konzert

«Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens»

FESTIVAL DOLOMITES

Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) / Jannik Giger (*1985): «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» (1922/2017)*

STUMMFILM & LIVE MUSIK

Jannik Giger ist als Komponist und Filmemacher gewohnt Spartengrenzen auszuloten und zu überwinden. Projekte von und mit ihm tragen immer seine unverwechselbare Handschrift. Die Affinität zum Film lassen ihn Murnaus Klassiker «Nosferatu» sensibel und stimmig in Musik setzen, ohne je plakativ oder illustrativ zu werden.

Für seine Neuvertonung des Stummfilmklassikers «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» (1922), die 2017 am Musikfestival Bern zur Uraufführung kam, griff Jannik Giger auf Versatzstücke aus Soundtracks zu Filmen von David Lynch oder Alfred Hitchcock sowie auf Fragmente aus der romantischen Klangwelt Franz Schuberts zurück. Diese Reminiszenzen geistern zum einen als zugespielte Samples und zum anderen in kompositorischer Neuschöpfung für vierzehn Instrumentalist:innen durch die Partitur und verbinden so die Historizität des Films mit der Gegenwart seiner Aufführung. In der Transformation dieser Spuren klingender Vergangenheit und ihrer Gegenüberstellung mit live agierenden Musiker:innen verwischt Giger die Trennlinien zwischen realer und virtueller Klangerzeugung. Er löst den herkömmlichen filmmusikalischen Orchesterklang auf, indem er ihn wiederum mit einer Soundcollage verfremdeter Orchesterklänge überschreibt. Das ist von berauschender Klangsinnlichkeit und fügt sich geschickt in die poetische Bildwelt Friedrich Wilhelm Murnaus, unterstreicht die Dramaturgie des Films und bleibt dennoch eine eigenständige Sinneinheit. Ferner weist Gigers Komposition ihre Zitatebene immer wieder als solche aus und wird so zur Reflektion über Wesen und Wirkung von Filmmusik. (Moritz Achermann)

Die neue Komposition von Jannik Giger zum ikonischen Stummfilm «Nosferatu» (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau ist ein vielschichtiges Werk, das sich tief in der symbolischen Sprache der expressionistischen Ästhetik verankert. Gigers Komposition greift die visuelle und emotionale Kraft des Films auf und überführt sie in eine neuartige, synästhetische Klangwelt. Nosferatu steht dabei als Sinnbild für Urängste, für die Verunsicherung und die Zerstörung des Lebens – Themen, die Giger musikalisch vielschichtig ausleuchtet. Die Bildsprache des Films wird nicht lediglich vertont, sondern in Gigers Werk zu einem eigenständigen Dialogpartner. Die Musik agiert als abstrakte Ebene, die mit der Dynamik von Zeit und Raum spielt. Durch eine radikale formale Struktur und eine organische Klangentwicklung schafft Giger eine Klanglandschaft, die der filmischen Ästhetik in ihrer Ausdruckskraft entspricht und sie zugleich erweitert. Die Aufführung dieser Komposition erfolgt durch das renommierte Ensemble Phoenix Basel unter der Leitung von Jürg Henneberger. Das Ensemble ist bekannt für seine virtuose und präzise Interpretation zeitgenössischer Musik und bildet die ideale Besetzung, um Gigers anspruchsvolle Klangwelt zum Leben zu erwecken. Ein besonderes Merkmal der Komposition ist die Interaktion zwischen Musiker:innen und «Schattenspieler:innen». Jede Musikerin wird durch einen Lautsprecher ergänzt, der Klänge aus einer anderen Welt in den Raum trägt. Diese Klänge, geprägt von Verfremdung und Verzerrung, erscheinen wie Geister vergangener Zeiten. Sie zitieren die Geschichte der Filmmusik und erinnern mit ihrer Patina an längst vergangene, manchmal unheimliche Erzählweisen. Die Lautsprecher verknüpfen das gegenwärtige Klangbild mit einer geisterhaften Schicht aus Erinnerungen und musikalischen Zitaten. Die Komposition folgt keiner festen Struktur, sondern entwickelt sich organisch. Zitate von Komponisten wie Gustav Mahler oder Bernard Herrmann sind in die Klangwelt integriert, jedoch nicht als bloße Reproduktionen, sondern als Resonanzen, die die emotionale Tiefe und das Unbewusste des Films in eine neue Dimension überführen. Die Referenzen folgen einer eigenen Logik, die aus der Auseinandersetzung mit der filmischen Ästhetik hervorgeht, und schaffen eine einzigartige Balance zwischen Alt und Neu. Die Verbindung von Film und Musik in Gigers Werk führt zu einer faszinierenden Entkopplung des akustischen und visuellen Erlebens. Während die Musik die visuelle Wahrnehmung des Films ergänzt, unterläuft oder sogar transzendiert, entsteht eine eigenständige narrative und emotionale Kraft. Die Komposition betont die Möglichkeiten, Bild und Klang als unabhängige, doch eng verflochtene Medien zu gestalten. Mit seiner Arbeit schafft Jannik Giger eine synästhetische Verschmelzung von Bild und Ton, die weit über eine traditionelle Filmmusik hinausgeht. Die Interpretation durch das Ensemble Phoenix Basel und Jürg Henneberger verleiht der Aufführung eine außergewöhnliche Intensität und macht diese neue Vertonung von «Nosferatu» zu einem faszinierenden Beispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Künsten. (Jannik Giger)

Kulturzentrum Gustav Mahler Toblach
Dolomitenstraße 41 / 43
Italien, 39034 Toblach (BZ)
Hochpustertal, Dolomiten, Südtirol
UNESCO WELTERBE

https://www.kulturzentrum-toblach.eu/de/kulturprogramm/festival-dolomites

* aus dem Bestand der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (www.murnau-stiftung.de) in Wiesbaden


Programm

Jannik Giger (*1985) «Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens» für Ensemble und Elektronik (mit Film) (2017) – 93’
Jürg Henneberger
Musikalische Leitung
Christoph Bösch
Flöte
Toshiko Sakakibara
Bassklarinette
Lucas Rößner
Kontraforte
Aurélien Tschopp
Horn
Michael Büttler
Posaune
Daniel Stalder
Schlagzeug
Mauricio Silva Orendain
Orgel
Kirill Zvegintsov
Klavier
Samuel Wettstein
Klavier
Friedemann Treiber
Violine
Daniel Hauptmann
Violine
Petra Ackermann
Viola
Stéphanie Meyer
Violoncello
Martin Jaggi
Violoncello
Till Zehnder
Elektronik
Phœnix

«Zeit-los – Minimal Music»

Wiederholung, Pattern und das Spiel damit in der Zeit sind Grundsäulen menschlicher Wahrnehmung, sowie Kommunikation und so wohl auch Grund für den bleibenden Erfolg und die Beliebtheit der Strömung «Minimal Music», die sich explizit mit diesem Phänomen beschäftigt.

«Minimal Music» entstand als Reaktion auf die hochkomplexe serielle Musik eines Karlheinz Stockhausen oder Pierre Boulez, die sich aus der Zwölftontechnik von Arnold Schönberg weiterentwickelt hat. Sie verwendet meistens eine einfache Melodik und eine modale Harmonik. Die rhythmische Komplexität steht neben der klangfarblichen Vielfalt im Vordergrund.

Der amerikanische Komponist Steve Reich ist einer der Gründer der «Minimal Music», die er seit über 50 Jahren entscheidend geprägt hat. Seine Musik ist charakterisiert durch sich allmählich verändernde rhythmische Patterns, die auch für die balinesische Gamelan-Musik stilbildend sind.
Hypnotisierend repetitive Klänge, innovative Rhythmen und harmonische Strukturen in Steve Reichs Meisterwerk «Double Sextet» loten die Grenzen von Raum und Zeit aus und ziehen alle Zuhörenden damit unweigerlich in ihren Bann.
In diesem 2007 entstandenen Werk stehen sich zwei identische Sextett-Formationen gegenüber, die aus je zwei Holzblasinstrumenten (Flöte und Klarinette), zwei Streichinstrumenten (Violine und Violoncello), zwei Vibraphonen und zwei Klavieren bestehen. Die Idee des Dialogs eines live gespielten Instruments mit einer vorproduzieren Klangquelle, die mit dem gleichen Instrument und mit ähnlichem musikalischen Material aufgenommen wurde, hat Steve Reich bereits 1967 mit «Violin Phase» realisiert und im Laufe seines Lebens in mehreren Werken bis zum «Double Sextet» weiterentwickelt. Bei all dieser Werkgruppe besteht die Alternativmöglichkeit, das Tonband durch live gespielte Instrumente zu ersetzen.

Die amerikanische Komponistin und Schlagzeugerin Sarah Hennies komponierte bis zum Jahr 2021 ausschliesslich Solo- und Kammermusikwerke, deren Zusammenspiel durch einen Timecode koordiniert werden. 2021 bestellte das «Talea Ensemble» ein Ensemble mit dem ausdrücklichen Wunsch, einen Dirigenten statt einer Stoppuhr einzusetzen. Sarah Hennies schreibt zur Entstehung dieser Komposition:
«Clock Dies» war das erste Stück, bei dem ich dachte: Mal sehen, ob ich Kammermusik machen kann.
Sarah Hennies setzt sich in «Clock Dies» mit der individuellen Wahrnehmung von Zeit und der Beziehung zwischen Klang und Stille auseinander. Zeit als nicht-lineares Konzept zwischen Musik, Alltagsgeräuschen, Momenten der Stille, des «Nach-Sinnens» und «in-sich-hinein-Hörens».

Die amerikanische Komponistin und Umweltaktivistin Gabriella Smith liess sich während eines Aufenthalts auf der Insel Itaparica in der Baía de Todos-os-Santos (Allerheiligenbucht) von Salvador de Bahia (Brasilien) vom Meeresrauschen während der Gezeiten (brasilianisch «maré»), von Windgeräuschen und Vogelgesängen inspirieren. Sie giesst in «Maré» sanfte Wellen und pulsierende Strömungen in musikalische Form und schafft mit ihrer Komposition eine sinnliche und sinnige Hommage an das ewig Wiederkehrende des Meeres und die Schönheit und innere Kraft des Wassers, die aus jedem Ton spricht.
Ihre Musik ist weniger von den pulsierenden Rhythmen der Minimalisten wie Steve Reich oder Philip Glass beeinflusst, sondern eher von den Klangflächen eines Charlemagne Palestine oder Phill Niblock.

Ein Abend mit «Minimal Music» in ihrer reinsten Form für Augen, Ohren, Geist und Körper!


Programm

Gabriella Smith (*1991) «Maré» (2017) für sechs Instrumente – 7–8’ Sarah Hennies (*1979) «Clock Dies» für acht Instrumente (2021) – 30’ Steve Reich (*1936) «Double Sextet» für zwölf Instrumente (2007) – 22’
Jürg Henneberger
Musikalische Leitung
Christoph Bösch
Flöte
Flöte
Toshiko Sakakibara
Klarinette
Klarinette
Trompete
Daniel Stalder
Schlagzeug
João Pacheco
Schlagzeug
Kirill Zvegintsov
Klavier
Samuel Wettstein
Klavier
Friedemann Treiber
Violine
Daniel Hauptmann
Violine
Viola
Stéphanie Meyer
Violoncello
Benedikt Böhlen
Violoncello
Phœnix

«Lever-kühn»

Der bedeutende polnische Komponist Ryszard Gabryś ist Professor an der Musikakademie Kattowitz und der Schlesischen Universität in Cieszyn. Als Leiter des von ihm gegründeten Instituts für Musikerziehung betreute er fast dreihundert Doktorarbeiten und künstlerischen Dissertationen. Ausserdem ist er Autor zahlreicher musikwissenschaftlicher und journalistischer Texte sowie von Musikserien für den polnischen Rundfunk und das polnische Fernsehen.
In seinem neuen Werk «Leverkühns letzter Sprechgesang» für Bariton und vier Instrumente, das in diesem Programm zur Uraufführung kommt, bezieht sich Gabryś auf die charismatische Figur Adrian Leverkühn aus Thomas Manns Roman «Doktor Faustus», einer fiktiven Biografie eines Komponisten, die von zeitgenössischen Künstlerpersönlichkeiten wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg inspiriert wurde. Im Titel des neuen Werks steckt eine weitere Reverenz vor Schönberg, den «Erfinder» des Sprechgesangs.

Sein Sohn Aleksander Gabryś ist seit 2001 unser Kontrabassist, der seit Jahren auch als Komponist in Erscheinung tritt. Für die nächste Saison haben wir ihm einen Kompositionsauftrag erteilt. Über sein geplantes Werk schreibt er:
«Rio, mein Rio» ist eine klingende Reise – eine Hommage an jene Kräfte, die meine musikalische Vorstellung speisen. Im Zentrum steht der Kontrabass – mein Leviathan, mein Begleiter seit Jugendtagen, widerspenstig und vertraut zugleich. Es ist auch ein Dank an mein Ensemble Phoenix Basel, mit dem ich seit einem Vierteljahrhundert verbunden bin und das mich eingeladen hat, dieses Opus zu schreiben.
Wie der kleine Mio in Astrid Lindgrens Erzählung aus dem Jahr 1954 verlässt auch dieses Stück das Gewohnte und tritt in eine andere Welt – klanglich getragen von Fusion-Reminiszenzen, mikrotonalen Skalen und kammermusikalischen Dialogen. Die Figur Mio ist für mich zudem untrennbar mit der bisher noch nicht aufgeführten Oper «Mio, mein Mio» (1969–72) von Constantin Regamey (1907–1982) verbunden – jenem faszinierenden Komponisten, Sprachgenie und Denker, bei dem mein Vater einst Komposition studierte.
In einer Kadenz, die der Kontrabass wie eine innere Reinigung durchkaut, mündet alles in eine kosmische Vibration – zart, verzerrt, vereint. Und schließlich ist da der Name Rio, der Fluss, der kürzlich in mein Leben trat – lebendig, inspirierend, vorwärts drängend. Möge mein Stück so klingen: optimistisch, voller Bewegung und leiser Hoffnung. (Aleksander Gabryś – 2025)

Der iranische Komponist Arash Yazdani verwendet in seinem Werk «Dispersion» für Qānūn und Ensemble Texte aus iranischer Poesie, von Martin Luther und Laotse. Diese Texte sind Inspirationsquellen für den Qānūn-Spieler, der diese auf seinem Instrument interpretiert. Der Solist soll über diese Verse meditieren und ihren Rhythmus und ihre Sprachmelodie auf die musikalischen Linien anwenden. Einige melodische Figuren sind dem traditionellen Repertoire iranischer Musik (Radif) entnommen. Der Begriff «Dispersion» stammt aus der Physik und beschreibt die Zerstreuung einer Welle, die sich, wenn sie auf ein Medium trifft, in ihre Bestandteile und damit in unterschiedliche Phasengeschwindigkeiten aufteilt. Das Ensemble bildet einen kontinuierlichen Fluss melodischer Linien und harmonischer Gebilden aus pulsierenden Schwebungen und Kombinationstönen.


Programm

Ryszard Gabryś (*1942) «Leverkühns letzter Sprechgesang» für Bariton und Ensemble (2024/25, UA, Auftrag EPhB) – 18’ Arash Yazdani (*1985) «Dispersion» für Qānūn und Ensemble (2016) – 22’ Aleksander Gabryś (*1974) «Rio, mein Rio» für Kontrabass und Ensemble (UA, Auftrag EPhB) – 15’
Antoin Herrera-López Kessel
Bariton
Aleksander Gabryś
Kontrabass Solo
Jürg Henneberger
Musikalische Leitung
Christoph Bösch
Flöte
Antje Thierbach
Oboe
Toshiko Sakakibara
Klarinette, Bassklarinette
Fagott
Horn
Trompete
Posaune
Tuba
Qānūn
Daniel Stalder
Schlagzeug
Kirill Zvegintsov
Klavier
Friedemann Treiber
Violine
Daniel Hauptmann
Violine
Alessandro D’Amico
Viola
Stéphanie Meyer
Violoncello
Aleksander Gabryś
Kontrabass
Phœnix

«Carte Blanche für Natalia Salinas»

Nachdem der argentinische Komponist Alberto Ginastera mit seiner zweiten Oper «Bomarzo» bei seiner Premiere 1967 in Washington, D.C. ein finanzielles Fiasko erlebt hatte (der damalige militärische Führer Argentiniens, Juan Carlos Onganía, zensierte die Oper aufgrund des Librettos, das Folter, Missbrauch, Obsession, Homosexualität und Impotenz thematisierte), entschied er sich dafür, sein Heimatland zu verlassen. Er liess sich 1971 in Genf nieder, wo er seine zweite Frau Aurora Nátola heiratete, eine argentinische Konzertcellistin, für die er einige bedeutende Werke, u. a. die «Serenata» op. 42, geschrieben hat. Er wählte für dieses Werk drei Gedichte aus Pablo Nerudas «Love Poems», die er für den puertoricanischen Bassbariton Justino Díaz vertonte, der bei seiner Oper «Beatrix Cenci» 1971 die männliche Hauptrolle sang. In seinem Spätwerk vereinte Ginastera seinen dramatischen Stil, der in seinen drei Opern vorherrscht, mit einem Lyrismus, der v. a. in seinen späten zwei Cellokonzerten zum Ausdruck kommt.

Im Jahr 2002 erteilte der Konzertveranstalter «Ciclo de musica contemporánea del Teatro San Martín, Buenos Aires, Argentina» sieben einheimischen Komponisten den Auftrag, ein Werk zu schreiben, das sich auf die Komposition «4’33’’» (1952) von John Cage bezieht, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feierte. Erik Oñas Beitrag war das 12-minütige Sextett «De la incomprención de un silencio» (Ein Missverständnis von einer Stille).
Zu seiner Entstehung schreibt Erik Oña:
Das Stück sollte in Buenos Aires uraufgeführt werden. Es sollte in irgendeiner Weise mit «4’33’’» von John Cage zu tun haben. Die verschiedenen Möglichkeiten, die Stille dieses Stücks zu interpretieren, reizten mich zuerst. Bald erinnerte ich mich an ein anderes stilles Ereignis, das mich in der Vergangenheit heimgesucht hatte und an das ich mich bis dahin kaum erinnern konnte. In den achtziger Jahren wurde ein siebzehnjähriges Mädchen in einer argentinischen Provinz ermordet, offenbar durch den Sohn eines Regierungsbeamten. Lange Zeit sah es so aus, als würden die Anwälte dieses Mannes mit Hilfe der mächtigen Verbindungen seines Vaters dazu beitragen, dass er sich der Justiz entzieht. Dies war während der ersten demokratischen Regierung, die auf die Militärjunta folgte. Die Menschen waren der Misshandlungen überdrüssig und misstrauten der Macht, und sie gingen auf die Strasse, um Ungerechtigkeiten anzuprangern. Die Tausende von Demonstranten trugen weder Schilder noch sangen oder riefen sie Slogans, sie marschierten einfach in völliger Stille. Das Schweigen, das im Spanischen oft mit Zustimmung assoziiert wird, wurde zu einem Zeichen des starken Widerstands, es unterstrich die Anwesenheit all dieser Körper, die Widerstand leisteten, und machte es unmöglich, sie zu ignorieren.
Aus Cages Stück können wir Ideen oder Haltungen entnehmen, keine Materialien oder musikalischen Zitate; mit Ausnahme der Dauer, die in diesem Fall das strengste Zitat wäre. Die Dauer ist hier nicht, wie in der traditionellen Musik, der Ankunftspunkt für die Entwicklung der musikalischen Ideen, sondern der Ausgangspunkt. «4’33’’» verdeutlicht ein allgemeines Prinzip in der Musik von Cage: das Prinzip der Dauer. Wenn es eine Struktur geben soll, dachte Cage, dann eine rhythmische Struktur. Eine rhythmische Struktur (oder Struktur der Dauer) ist von Natur aus gastfreundlich: Sie kann von Klängen, Geräuschen und Stille bewohnt werden. Stille und Klang haben die Dauer gemeinsam. (Erik Oña – 2002)

Das Programm wird ergänzt durch das Sextett «Vertiges suspendus» des chilenischen Komponisten Matías Rosales, das 2023 vom Ensemble Court-Circuit in Auftrag gegeben und 2024 in Boulogne-Billancourt uraufgeführt wurde.
Die Musikologin Michèle Tosi schreibt über diese Aufführung:
Der Horizont verdunkelt sich und die instrumentale Virtuosität erreicht einen Höhepunkt mit «Vertiges suspendus» für Flöte, Klarinette, Streichtrio und Klavier, einem Auftragswerk von Court-Circuit für den jungen chilenischen Komponisten Matías Fernández Rosales. Die muskulöse Art und Weise, mit der er das Spektralfeld der Frequenzen erkundet, die der resonante Bass des Klaviers (Jean-Marie Cottet) mit einer energetischen Intensität freisetzt, ist beeindruckend. Diese Musik der Übergänge setzt sich immer wieder aufs Neue in Bewegung und lässt Momente der Glut durch die prächtigen multiphonen Klänge der Bassklarinette (Pierre Dutrieu) entstehen. Die Klangfarben verschmelzen zu einem mächtigen Meta-Instrument, das den Klang bis zur Sättigung trägt. (Michèle Tosi – 2024)


Programm

Matías Rosales (*1988) «Vertiges suspendus» für 6 Instrumente (2023) – 17’ Erik Oña (1961–2019) «De la incomprención de un silencio» für 6 Instrumente (2002) – 12’ Alberto Ginastera (1916–1983) «Serenata» op. 42 (nach Gedichten von Pablo Neruda) für Bariton, Violoncello und Ensemble (1973) – 30’
Bariton
Martin Jaggi
Violoncello Solo
Natalia Salinas
Musikalische Leitung
Christoph Bösch
Flöte, Altflöte
Antje Thierbach
Oboe
Toshiko Sakakibara
Klarinette, Bassklarinette
Fagott
Horn
Trompete
Daniel Stalder
Schlagzeug
João Pacheco
Schlagzeug
Consuelo Giulianelli
Harfe
Kirill Zvegintsov
Klavier
Friedemann Treiber
Violine
Petra Ackermann
Viola
Martin Jaggi
Violoncello
Aleksander Gabryś
Kontrabass
Phœnix

«Lettura – Fermata»

Die Schweizer Komponistin Caroline Charrière war ausgebildete Flötistin (sie studierte u. a. bei Aurèle Nicolet) und Chordirigentin. Seit der Uraufführung 1993 ihres Werks «Vox Aeterna» für Sprecher, Damenchor und Orchester nahm das Komponieren immer mehr Platz in ihrem Leben ein, und Im Jahr 2000 schliesslich entschied sich die Musikerin, der Komposition in ihrer Tätigkeit den wichtigsten Platz einzuräumen. Das Sextett «Papillons de Lumière» ist eines ihrer letzten Werke, bevor sie 2018 nach langer Krankheit starb.

Der kanadische Komponist Thierry Tidrow nennt seine «Vier Elementarphantasien» Galgenhumorszenen über Kataklysmusgedichte von Christian Morgenstern. Das virtuose Duo «Die Flamme» ist der Sopranistin Sarah Maria Sun auf den Leib geschrieben. Die musiktheatralen Elemente kommen ihr und ihrer Duopartnerin, der Klarinettistin Toshiko Sakakibara, entgegen. Wir werden mit diesem Duo eine «Oper in Miniaturformat» erleben, das den hintergründigen Texten des Münchner Dichters Christian Morgenstern absolut gerecht wird!

Der Kanadische Komponist Claude Vivier schreibt über «Lettura di Dante»:
«Lettura di Dante» nach Texten aus Dantes «La divina commedia» wurde 1973/74 in Köln komponiert und basiert auf einer Melodie mit sechs Zellen aus einer, zwei oder drei Noten, die ständig wiederholt und im Sopran leicht modifiziert werden. Diese Melodie sowie alle ihre Transpositionen und Spiegelungen wurden dann zu einem langen zwölfstimmigen Kontrapunkt zusammengefasst, dessen Teile rhythmisch in Augmentation und Diminution artikuliert sind. Aus diesem Kontrapunkt entsteht eine «Klangfarbenmelodie», die, von sechs Instrumenten gestaltet, zum Gegengesang der ursprünglichen Melodie wird.
«Lettura di Dante» ist in sechs Hauptabschnitte unterteilt und enthält auch einen siebten Abschnitt, in dem die ursprüngliche Melodie als vierstimmiger Kontrapunkt behandelt wird. Jeder dieser Abschnitte enthält ein Solo und eine Gruppe von einem bis sechs Instrumenten. Außerdem wird im Verlauf des jeweiligen Abschnitts eine Zelle der «Melodie»  im Tempo Ganze=15, dem Grundtempo des gesamten Stücks, gespielt.
Diese Musik ist Peter Eötvös gewidmet, einem Musiker aus der Stockhausen-Gruppe, den ich während meines Aufenthalts in Köln kennengelernt habe, und tendiert zu einer neuen Sensibilität, die ich seit meiner Geburt immer bei den Randständigen, den «Pennern» oder Clochards (in Montreal «robineaux») wahrgenommen habe. Auch diese Schönheit und Reinheit, die alte Menschen und Kinder in mir auslösen, oder auch diese Nähe zum Tod, die mir mein Vater und meine Mutter immer auferlegt haben. Die Vision einer unerreichbaren Welt in einem Leben, in dem Geld und Macht alles bestimmen. Ein Leben voller Einsamkeit.
Es sind vor allem diese einsamen Menschen, die wir alle sind, an die ich denke, wenn ich schreibe. Ich denke dann nicht mehr an die «Zukunft» oder die «Vergangenheit», sondern an eine Art verschwundene Gegenwart, eine Art ungreifbare Freude, vermischt mit der Traurigkeit eines Kindes, das seine Mutter verloren hat. (Claude Vivier – 1974)

Der ungarische Komponist Péter Eötvös schreibt über Fermata:
«Fermata » (2020/21) ist ein Concerto für 15 Musiker:innen, die in anderthalb Metern Abstand voneinander sitzen/stehen. Sie tragen eine Art Zeitbericht vor: von unseren Covid-Tagen und Pandemie-Jahren, in denen das gewohnte Leben plötzlich stehen bleibt, dann etwas chaotisch weitergeht und wieder mit tragischen Geschehnissen stoppt.
Die seit Jahrhunderten zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen scheinen aktuell die Zündschnur angezündet zu haben. Die Frage ist: Wie lang ist die Schnur und wie schnell oder langsam wird sie die Bombe zur Explosion bringen?
Solche Gedanken wirren im Kopf des Komponisten herum, während er die Töne schreibt und eher das Gefühl hat, die Töne schreiben ihn. (Peter Eötvös – 2021)


Programm

Caroline Charrière (1960–2018) «Papillons de Lumière» für sechs Instrumente (2017) – 10’ Thierry Tidrow (*1986) «Die Flamme» für Sopran und Klarinette (2017) aus «Vier Elementarphantasien» (2017–2020) – 4’ Claude Vivier (1948–1983) «Lettura di Dante» für Sopran und sieben Instrumente (1974) – 26’ Péter Eötvös (1944–2024) «Fermata» für Ensemble (2021) – 18’
Sarah Maria Sun
Sopran
Jürg Henneberger
Musikalische Leitung
Christoph Bösch
Flöte, Piccolo
Antje Thierbach
Oboe, Englischhorn
Toshiko Sakakibara
Klarinette
Christian Spitzenstätter
Bassklarinette
Fagott, Kontraforte
Horn
Trompete
Posaune
João Pacheco
Schlagzeug
Kirill Zvegintsov
Klavier
Friedemann Treiber
Violine
Daniel Hauptmann
Violine
Mirka Šćepanović
Viola
Benedikt Böhlen
Violoncello
Aleksander Gabryś
Kontrabass